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Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären

Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären

Titel: Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
Autoren: Yasmina Khadra
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ihre sprachliche und kulturelle Besonderheit unterdrückt.] statt.
    Viele sind gekommen, wollten es sich nicht neh-
    men lassen, den Toten zu seiner letzten Ruhestätte
    zu geleiten. Aus der ganzen Gegend sind sie her-
    beigeströmt. Würdige Greise, stattliche Männer,
    junge Leute, sichtlich unter Schock.
    Idir Naït-Wali war keiner von den Notabeln. Ge-
    wiß, er hatte einen der bedeutendsten Maler des
    ganzen Landes zum Bruder, gewiß, sein Name
    erhob den Stamm in den Rang einer Nation, doch
    als Philosoph, der um den Wahn weltlicher Eitel-
    keit wußte, war es ihm gelungen, eine aufrechte,
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    zurückhaltende Gestalt zu bleiben, wie schon sein
    Vater, sein Großvater und seine Ahnen es gewesen
    waren. Ein geborener Hirte und unrettbarer Träu-
    mer, Künstler nach Lust und Laune und Krieger
    wider Willen. Sein Leben spielte sich im Schatten
    seiner Ölbäume ab, nie sah man ihn anders als mit
    dem Turban auf dem Kopf und der Flöte in Reich-
    weite seiner Seufzer. Er besaß rund zwanzig Scha-
    fe, denen er hingebungsvoll beim Grasen zusah,
    ein Fleckchen Land am Ausgang vom Dorf und die
    warme Zuneigung der Seinen. Er war primitiv,
    weil er authentisch war, und seine Tage spulte er
    ab wie andere die Perlen an ihrem Rosenkranz,
    ohne Getue, ohne Tamtam, ohne weltbewegende
    Überzeugungen, überzeugt wie er war, daß das
    Glück – jedwedes Glück – eine Frage der Mentali-
    tät sei, weiter nichts.
    Gerade spricht der Imam: „Das schlimmste Un-
    recht, das man dem lieben Gott antun kann, besteht
    darin, jemandem das Leben zu nehmen. Denn nir-
    gends zeigt sich die Großzügigkeit des Herrn ein-
    drucksvoller als im Geschenk des Lebens.“
    Neben mir steht Arezki und reibt sich pausenlos
    die Hände an den Hüften trocken. Er hört nicht,
    was der Imam sagt, sieht nicht die Vögel, die sich
    in den verkümmerten Bäumen die Seele aus dem
    Schnabel schreien. Von Zeit zu Zeit fällt sein ver-
    störter Blick auf den weißumhüllten Körper seines
    Bruders. Und erst dann faltet er, der so zerbrech-
    lich und zerrupft aussieht, die Hände vorm Bauch

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    und beugt das Genick noch ein wenig mehr vorn-
    über.
    Kaum sind die ersten Schaufeln Erde auf den
    Leichnam gefallen, hat Arezki sich schon abge-
    wandt. Ich folge ihm bis zur Straße, durch die sich zahllose Risse ziehen, und weiter hinauf bis auf
    den Hügel, auf den er als Kind immer mit seinem
    Bruder lief, um von dort oben Echos über das zer-
    klüftete Land zu werfen. Selbstvergessen lehnt er
    an einem Feigenbaum, einen Arm auf dem Stamm
    ausgestreckt, den Kopf gegen den Handrücken
    gestützt, selbstvergessen, eine Ewigkeit lang.
    Mir fehlen die Worte.
    Stumm verharren wir dort, zwischen Himmel und
    Erde, winzig und stumm, zwei Staubkörnern
    gleich. Um uns herum, so weit das Auge reicht,
    verwüstetes Land. Mein Blick fällt auf ausgedörrte
    Obstgärten, kahle Hügelkuppen und Geisterflüsse,
    die dabei sind, ihrer Verlassenheit von Gott und
    der Welt Gestalt zu geben. Am Fuß des Bergs, hin-
    ter seinen Elendshütten verschanzt, modert Igidher
    in der Sonne vor sich hin, undurchdringlich wie die Wege des Herrn. Meine Heimat ist nur noch ein
    unermeßlicher Schmerz …
    Hier bin ich geboren, vor sehr langer Zeit. Man
    nannte es die Zeit der Kolonien. Damals waren die
    Felder so unermeßlich weit, daß jenseits des Bergs, so schien es mir, das Nichts begann. Der Weizen
    stand mir bis zu den Schultern, und doch hatte ich
    ständig Hunger, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Ich
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    verstand schon damals nicht, aber es war mir egal:
    Ich hatte das Glück, ein Kind zu sein. Wenn ich
    dem Flug der Libelle zusah und mir dabei selber
    Flügel wuchsen, wenn die Kaskaden meines La-
    chens ins plätschernde Wasser der Brunnen tropf-
    ten, wenn ich wie toll durchs Farnkraut tobte, ob-
    wohl jeder Schritt wie ein Zweikampf war, wußte
    ich: ich war als Dichter geboren wie der Vogel als
    Sänger, und wie dem Vogel so fehlten auch mir nur
    die Worte, es zu sagen.
    Und heute, da verstehe ich noch immer nicht. Ich
    taste mich vorwärts wie ein Blinder im hellen Ta-
    geslicht. Zwar habe ich die Fesseln längst abge-
    streift, doch der Lorbeer des Freigelassenen ist mir wie eine Scheuklappe. Mein Prophetenblick hat
    jeden Halt verloren. Fast schäme ich mich für den
    Erwachsenen, der aus mir geworden ist, und erwar-
    te mein Alter mit demselben Argwohn wie andere
    den Gerichtsvollzieher, denn die Dinge hienieden
    machen mich längst nicht mehr träumen.

    Die Nacht
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