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Collector’s Pack

Collector’s Pack

Titel: Collector’s Pack
Autoren: Mario Giordano
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sie aus dem verlassenen Kloster Namgung ins Freie traten, sahen sie eine erstarrte, graue Welt aus Fels, Wolken und Regen. Der Regen war wie ein endloser Vorhang. Sie machten die Beobachtung, dass die Wassertropfen wieder zu fallen begannen, wenn man sie berührte oder in ihre Nähe kam. Man konnte sie sogar mit der Zunge auffangen und trinken. Als strahlten ihre beiden Körper eine besondere Wärme ab, die den Frost der Welt für kurze Zeit auftauen konnte. Wenn sie nahe beieinanderstanden, vergrößerte sich der Wirkungsbereich dieser Hülle sogar etwas. Außerhalb dieser »Wärme« dagegen rastete umgehend alles wieder in seinen erstarrten Zustand ein. Das galt auch für den Schall. Verständigung war nur in unmittelbarer Nähe möglich. Sobald sie sich voneinander entfernten, herrschte vollkommene Stille.
    Das Gras der Hochweide, über die sie beim Abstieg wanderten, bog sich nur zäh und widerwillig unter ihren Schritten und machte das Gehen mühsam. Peter merkte, dass ihm nicht kalt wurde, und vermutete, dass diese Art von Hülle aus Zeit, die sie mit sich trugen, offenbar auch Körperwärme speicherte. Das beruhigte ihn. Alles in allem kein unangenehmer Zustand, bis auf die Erkenntnis, dass sie nun ganz allein auf der Welt waren, nur sie beide, zwei Brüder.
    Peter erinnerte sich daran, was er einmal über die verschiedenen Phasen eines psychischen Schocks nach einem traumatischen Erlebnis gelesen hatte.
    Schock
    Orientierung
    Depression
    Akzeptanz
    Er hatte es bereits damals in Afghanistan erlebt, als er zwei Menschen getötet hatte und den Tod eines Soldaten nicht hatte verhindern können. Und wieder rollte nun die erste Welle aus Verwirrung, Ablehnung und Trotz über ihn hinweg. Es konnte nicht sein, durfte einfach nicht sein, es widersprach allen Naturgesetzen.
    Was weißt du schon von Naturgesetzen!
    »Was sind wir? Tot?«, fragte er Nikolas.
    Peter schüttelte langsam den Kopf.
    »Nein. Ich weiß nicht. Irgendwas dazwischen.«
    Dazwischen .
    »Und was sollen wir jetzt tun?«
    Nikolas hatte keine Ahnung. Der erste Schock ließ langsam nach und hinterließ nichts als Erschöpfung.
    »Ich kann nicht mehr. Lass uns irgendwo ausruhen«, schlug Peter vor. »Kennst du dich in der Gegend aus?«
    »Im Tal ist ein Dorf. Aber davor gibt es noch ein buddhistisches Kloster, das ist näher.«
    »Na, dann«, sagte Peter müde. »Versuchen wir’s.«
    Sie erreichten das Kloster Tengboche nach geschätzten drei Stunden Fußmarsch. In der Klosterküche fanden sie übrig gebliebenes Essen vom Mittag, das in großen Aluminiumtöpfen aufbewahrt wurde. Nikolas fand heraus, dass auch Dhal , Reis und Gemüse »weich« wurden, sobald man sie in die Hand nahm. Auf diese Weise konnten sie essen, obwohl alles, was sie probierten, irgendwie gleich schal und lauwarm schmeckte. Auch der Tee schmeckte so.
    Schöne Aussichten.
    Sie waren zu erschöpft, um darüber nachzudenken, was sie weiter tun sollten. Also gingen sie hinauf in den Schlafsaal, wo es Matratzen und Decken gab, um sich für ein paar Stunden hinzulegen.
    Dort oben fanden sie Marina.
    Und der Schock holte sie wieder ein.
    Für einen Moment glaubten sie nicht, was sie sahen. Marina lag unter Decken auf einer Matte, neben ihr ein junger Mönch in der gleichen Haltung. Ein Mädchen kniete neben ihm und befühlte seine Stirn. Nikolas starrte das eingefrorene Gruppenbild fassungslos an. Dann stürzte er zu ihr hin. Peter konnte ihn gerade noch zurückreißen.
    »Nicht!«, schrie er seinen Bruder an. »Du bringst sie nur um!«
    Nikolas wirkte außer sich, wollte sich aus dem Griff befreien, doch Peter hielt ihn eisern fest, drückte seinen keuchenden Bruder zu Boden, bis er sich beruhigt hatte.
    »Du kannst nichts tun, Niko! Ganz ruhig! Wir werden rausfinden, was passiert ist, und dann können wir ihr vielleicht helfen! … Okay?«
    Nikolas’ Kräfte erlahmten. Er nickte nur stumm und wich nicht mehr von Marinas Seite. Er saß einfach neben ihr, betrachtete die Frau, die er liebte und doch nicht berühren durfte, und wartete stur darauf, dass die Zeit wieder losruckeln und ihre normale Fahrt aufnehmen würde.
    Tat sie aber nicht.
    Ihr Biorhythmus geriet durcheinander. Sie schliefen nur noch kurz und unregelmäßig, nahmen zwischendurch kleine Mahlzeiten ein, die sie immer noch aus den Resten in der Küche klaubten. Peter bekam Kopfschmerzen und Durchfall. Er merkte, wie sehr ihm dieser Zustand der Welt allmählich zusetzte und musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Nikolas
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