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Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)

Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)

Titel: Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
Autoren: Laura Amy Schlitz
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würde so weit reisen, nur um dann meine Haltestelle zu verpassen, miau, miau! « Aber zu guter Letzt schenkte sie ihm ein winziges Lächeln. Und das genügte, um den jungen Mann vor Stolz anschwellen zu lassen, dass er an diesem Tag einen so guten Service geleistet hatte.
    Tatsächlich sollten bald schon seine Vorgesetzten darauf aufmerksam werden, wie tüchtig und hingebungsvoll der junge Schaffner seine Arbeit erledigte. Und sie würden keine Zeit verlieren, dem fähigen Burschen eine Beförderung anzubieten. Im Laufe der kommenden Jahre würde er sich hocharbeiten und schließlich als Cheflokomotivingenieur zu bescheidenem Wohlstand gelangen und sich bei allen, die ihn kennen, großer Beliebtheit erfreuen.
    Aber das glückliche Ende seiner Geschichte lag wie so vieles noch in ferner Zukunft. Jetzt blickte der junge Schaffner erst einmal durch das Fenster des abfahrenden Zuges. Er sah, wie die rasch kleiner werdende Miss Lumley regungslos inmitten der großen Dampfwolken stand, während das hohe, durchdringende Kreischen der Räder mit dem wehmütigen Tenor der Zugpfeife und dem tiefen Bass des dröhnenden Dampfantriebs einen Chor bildete. Wie der Schaffner konnte auch Miss Lumley zu diesem Zeitpunkt nicht vorhersehen, ob ihr Leben einen glücklichen oder einen anderen, weniger wünschenswerten Verlauf nehmen würde.
    Doch zum Glück wusste sie Besseres zu tun, als sich über so etwas den Kopf zu zerbrechen. Obwohl sie erst fünfzehn Jahre alt war, hatte sie vor Kurzem ihre Abschlussprüfungen am Swanburne-Institut für kluge Mädchen aus armen Verhältnissen abgelegt. Während der Jahre, die Miss Lumley an der angesehenen Schule verbracht hatte, war sie in zahlreichen wissenschaftlichen und philosophischen Dingen unterrichtet worden. Im Mittelpunkt ihrer Ausbildung standen die weisen Sprüche der Schulgründerin Agatha Swanburne, einer Frau mit einem einmaligen gesunden Menschenverstand (wie ihr wahrscheinlich schon erraten habt, handelte es sich bei ihr um die sehr weise Frau, von der bereits die Rede war). Ihre treffenden Weisheiten erinnerten ein wenig an die Sprüche, die man in den Glückskeksen eines chinesischen Restaurants findet – obwohl ihr euch sicher sein könnt, dass weder Agatha Swanburne noch Penelope Lumley je einen Fuß in ein solches Etablissement gesetzt hatten.
    Miss Lumley war überzeugt, dass Agatha Swanburne keine hysterischen Anfälle bekommen würde, nur weil sie mit all ihren bescheidenen Habseligkeiten allein auf einem Bahnsteig in einer fremden Stadt stand und sich wünschte, sie hätte nie ihre geliebte Schule verlassen müssen, um sich in der Welt zu behaupten. Es war nicht zu ändern: Penelope Lumley hatte ihren Abschluss gemacht (übrigens ein Jahr früher und als Klassenbeste) und somit musste sie das Institut verlassen, weil »ein anhaltender Strom kluger Mädchen aus armen Verhältnissen darauf wartet, dass ein Platz frei wird«. So hatte Miss Charlotte Mortimer, die freundliche Schulleiterin von Swanburne, die Situation erklärt.
    »Das Leben eines Menschen kann sich innerhalb von zwei Tagen wirklich enorm verändern«, dachte Miss Lumley. Doch sie ermahnte sich, dass Agatha Swanburne keinen Augenblick darauf verschwendet hätte, sich um Dinge zu sorgen, die sich nicht ändern ließen oder um Ereignisse, die noch nicht eingetreten waren, oder um Sonstiges, bei dem es aus anderen Gründen nichts brachte, sich länger damit aufzuhalten. Ebenso wenig würde Agatha Swanburne sich selbst die eigene Hand fest drücken, die Augen schließen und sich einen Moment lang vorgaukeln, Miss Mortimer würde ihre Hand halten. Sie würde auch nicht glauben, dass wenn sie die Augen wieder öffnete, sie wieder in einer bekannten Umgebung wäre, umringt von vertrauten Menschen, und alles in ihrem Leben würde so bleiben, wie es immer war. Nein, Agatha Swanburne würde sich seelenruhig auf ihren Schrankkoffer setzen und darauf warten, dass die Kutsche sie abholen und nach Ashton Place bringen würde. Möglicherweise würde sie einen Band mit ihren Lieblingsgedichten hervorholen, um sich die Zeit zu vertreiben.
    Und genau das tat Miss Penelope Lumley jetzt ebenfalls. Sie mochte vielleicht jung sein und allein an einem fremden Ort, ohne ein wirkliches Zuhause, in das sie zurückkehren konnte, und auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch für eine Stelle, aber sie war eben auch sehr viel mehr als die gegebenen Umstände erahnen ließen: Sie war ein Swanburne-Mädchen, durch und durch.
     
    EINER
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