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Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Titel: Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
Autoren: Matthew Skelton
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Blick auf den Jungen, doch schließlich, als Mrs Kickshaw zum zweiten Mal ihre Namen rief, senkte er den funkelnden Messinggegenstand, der eben noch auf sie zeigte, und wandte sich dem Baum zu.
    Mit einer ruhigen Bewegung hob er den Unterarm.
    Zuerst dachte Cirrus, er würde ihm irgendwie winken oder ein Zeichen geben, doch da flog eine der Krähen aus der Baumkrone herab, setzte sich auf die Schulter des Mannes, dicht neben dem Ohr, und begann, an seiner Hutkrempe zu knabbern. Für Cirrus, der die Szene verblüfft beobachtete, sah es fast so aus, als würde der Vogel dem Mann ein Geheimnis erzählen.
    Und dann, ohne sich noch einmal umzudrehen, machte der Mann kehrt und verschwand in die Richtung, aus der er gekommen war – den langen gewundenen Pfad abwärts nach Black Mary’s Hole –, während die anderen Vögel sich in die Luft erhoben und ihm schweigend folgten. Wie Diebsgesindel.
     

 

     

Das Haus in der Midas Row
    Pandoras Herz schlug heftig. Kaum hatte Madame Orrery Mr Chalfont auf ihr Versteck hinter dem Vorhang aufmerksam gemacht, hatte er sie auch schon hervorgezogen und ins angrenzende Arbeitszimmer geführt. Er läutete nach einer Dienstmagd, dann beugte er sich zu Pandora herab, um nach der Plakette zu sehen, die sie an einem Kettchen um den Hals trug.
    »Nummer 4.002«, sagte er und ging zu einem großen Holzschrank an der Wand. Aus einem der Fächer nahm er ein dickes, in Leder gebundenes Buch, das er zu einem Tisch trug. Er blätterte und fuhr dabei mit dem Finger über die sauber untereinander geschriebenen Einträge.
    Mitte Mai 1771 blieb sein Finger stehen.
    »Ah, hier haben wir’s. Kind Nummer 4.002«, sagte er. »Weiblich, etwa drei Tage alt, annehmbarer Gesundheitszustand.« Dann blickte er vom Buch auf und seine Stimme verdüsterte sich. »Eingeliefert mit einem Zwillingsbruder, der später verstarb.«
    Pandora sah zu Boden, ihre Ohren brannten. Einen Augenblick lang stand sie nicht mehr im Arbeitszimmer des Heimvorstehers, sondern in einer zugigen Küche irgendwo auf dem Land. Eine enorm große Frau – Mrs Stockton, die Frau, die als ihre Amme angestellt war – lag mit einem leeren Becher Sorgentöter in der Hand vor ihr auf dem Boden, während in der Ecke ein kleiner schniefender Junge mit rotzverkrusteten Nasenlöchern und vor Fieber fleckigen Wangen saß – ihr Bruder.
    »Lieber Himmel, Kind, wein doch nicht!«, sagte Mr Chalfont und trat eilends neben sie.
    Pandora stand wieder vor dem Kamin im Arbeitszimmer des Heimvorstehers.
    Er nahm sie in die Arme, drückte sie, bis sie fast erstickte und nur noch den Spitzenrand seines Halstuchs kratzig an ihrer Haut spürte. Dann richtete er sich auf. »Ich kenne eine gute Medizin. Was hältst du von einem Stückchen Ingwer? Mit Ingwer lässt sich jedes Übel kurieren!«
    Er trat an einen schmalen Schreibtisch am Fenster und nahm aus einer der Schubladen eine kleine, mit Japanlack überzogene Dose. Pandora konnte auch einige seiner anderen Besitztümer sehen: ein glänzendes Silbermedaillon, einen Schildpattkamm und einen merkwürdigen Anhänger in Form einer Weltkugel. Außerdem hing über dem Schreibtisch das Porträt einer Frau, die geruhsam Wache hielt.
    Der Vorsteher bemerkte Pandoras Blicke und schloss die Schublade schnell.
    »Sie war meine Frau«, sagte er, zeigte auf das ovale Bild hinter ihm an der Wand und hielt ihr die Dose hin. »Sie ist kurz nach unserer Hochzeit gestorben.«
    Pandora murmelte ihr Bedauern, dann griff sie in die Dose und nahm sich einen der goldfarbenen Brocken. Kandierten Ingwer hatte sie noch nie gesehen, geschweige denn gegessen, und das frische würzige Aroma, das ihr in die Nase stieg, überraschte sie.
    »So ist’s recht«, sagte Mr Chalfont. »Nun in den Mund damit.«
    Fast zärtlich hielt Pandora den Schatz aus Ingwer in der Hand und freute sich an seiner leuchtenden Farbe. Schließlich legte sie ihn versuchsweise auf ihre Zunge – im selben Augenblick loderte ein kleines Feuer in ihrem Mund auf, und ihr Gesicht färbte sich rot von der plötzlichen Hitze.
    Mr Chalfont machte ein vergnügtes Gesicht. »Na, siehst du«, sagte er und tupfte mit seinem Taschentuch über ihre Wangen. »Besser?«
    Pandora nickte pflichtschuldig und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Madame Orrery zu, die gerade ein großes Ölgemälde über dem Kaminsims betrachtete: ein Schiff unter vollen Segeln, das von Eisklippen umgeben war. Der Heimvorsteher bot auch ihr ein Stück Ingwer an, doch sie rümpfte nur die Nase und
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