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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe
Autoren: Andreas Pittler
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verlief durchaus nichtunähnlich jener am Balkan. Auch hier hatten die österreichischen Feudalherren jeden nationalen Feudaladel beizeiten ausgerottet. Im Zuge des Dreißigjährigen Krieges, um genau zu sein. Als im Gefolge der Revolution von 1848 auch das tschechische Nationalbewusstsein neu erwachte, da versuchte der österreichische Feudalismus, den tschechischen Feudalismus als Bündnisgenossen zu gewinnen. Doch dem stand alsbald eine genuine tschechische Bourgeoisie gegenüber, welche die Fessel des Feudalismus abschütteln musste, um sich entwickeln zu können. So sah sich das Zentrum in Wien alsbald in eine Doppelmühle genommen. Einerseits wurde es von den Jungtschechen bekämpft, andererseits vom tschechischen Proletariat. In dieser Phase gesellschaftlicher Entwicklung hatten beide Klassen, wie es ja auch 1848 in Berlin und Wien der Fall gewesen war, gemeinsame Interessen. Man erinnerte sich des Ausspruchs Palackýs, wonach die Tschechen vor Österreich waren und nach Österreich sein würden, und da es Österreich nicht verstand, die Tschechen ebenso zu integrieren wie die Ungarn, war es klar, dass genau an diesem Punkt die Sollbruchstelle des morschen Reiches zu finden war.“
    „Das ist ja alles schön und gut“, ließ sich nun wieder Koritschoner vernehmen, „aber man sollte die nationale Frage nicht überbewerten. Diese ganze Mär von der Nation ist doch nur eine Erfindung der Bourgeoisie, um dem Arbeiter den Kopf zu verdrehen. Bourgeois bleibt Bourgeois, egal, ob er Französisch, Deutsch oder Tschechisch spricht, und Arbeiter bleibt Arbeiter. Das einzige Interesse des Bourgeois ist es, die Arbeiter auszubeuten, das einzige Interesse der Arbeiter muss es sein, die Herrschaft der Bourgeoisie zu brechen und den Sozialismus aufzurichten. Und bei diesem Kampf ist jede nationalistische Phrase kontraproduktiv, weil sie vom Klassenkampf ablenkt. Nicht umsonst hat Genosse Trotzki festgestellt: Der Arbeiter hat kein Vaterland.“
    Kisch überlegte, was dieser Aussage zu entgegnen wäre, und sah schließlich nach rechts: „Und was sagst du dazu, Werfel?“
    Auch Bronstein fiel auf, dass der Dichter als Einziger neben ihm die gesamte Zeit über geschwiegen hatte. Nun ruhten acht Augen auf ihm, und man merkte Werfel deutlich an, dass er sich in dieser Situation überaus unbehaglich fühlte. „Nieder mit Habsburg“, sagte er dann mit einem fragend-ratlosen Blick.
    Kisch verdrehte die Augen und wandte sich wieder Jelka zu. Augenzwinkernd lächelte er sie an: „Wir könnten uns ja darauf einigen, dass die Österreicher den Krieg verloren haben, weil sie die Südslawen als Gegner unterschätzt haben, weil sie die Tschechen nicht rechtzeitig auf ihre Seite gezogen und die Russen nicht überwunden haben, weshalb sie jetzt die Polen und die Ukrainer verlieren.“
    Nun musste auch Jelka lachen: „Egonek, Egonek, für eine pointierte Formulierung gibst du jeden Klassenstandpunkt auf, was? Wir wissen natürlich beide, dass diese Einschätzung vollkommen an der Wirklichkeit vorbeigeht, aber ich gestehe dir zu, es war gut gesagt.“
    Bronstein folgte der Unterhaltung mit wachsendem Befremden. Da fiel der ganze Staat auseinander, und diese vier Intellektuellen hier plauderten gemütlich darüber, als gelte es, irgendeine abstrakte Frage zu lösen, die in keiner Weise in das Leben der Menschen eingriff. Offenbar war ihnen nicht bewusst, wie katastrophal sich diese Entwicklung schon jetzt auswirkte und noch auswirken würde.
    Bronstein verspürte wachsenden Widerwillen gegen das Gespräch am Tisch. Es gab freilich genug Anlass zur Kritik am Habsburgerreich. Aber was war gewonnen, wenn die Monarchie einfach zerfiel? Würden die Leute dadurch satt? Standen ihnen dadurch wieder Arbeit und Brot gerüstet? Nein, wenn ein so großes Imperium unterging, dann bedeutete das nur Chaos, Anarchie und unendliches Elend. Bronstein schnappteeinen Satz auf, den Koritschoner gesprochen hatte: „Unsere Brüder in Böhmen, in Ungarn und in Polen werden uns nicht im Stich lassen.“
    Woher nahm der Mann diese Zuversicht? Die Böhmen hatten eben erst die Kohlelieferungen aus ihren Industrierevieren gestoppt. Die neue Regierung in Budapest hatte die Getreidelieferungen an Wien eingestellt, und die Polen, die hatten in Krakau alle Verbindungen zu Österreich gekappt. Die „Brüder“ scherten sich einen Dreck um Österreich, das dem Verderben preisgegeben war. Ohne die Kronländer könnte Wien keinen einzigen Tag überleben, dessen war sich
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