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Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold

Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold

Titel: Chronik der Vampire 08 - Blut und Gold
Autoren: Anne Rice
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gespottet. Aber als sie begann, Angehörige seines Klans zu töten, spotteten sie nicht mehr. Als sie erst einmal die bleichen Körper mit den leeren Augenhöhlen gesehen hatten, hatten sie ihn, Thorne, zu ihrem Helden erkoren. Er schüttelte sich. Schnee fiel von seinem Haar und seinen Schultern. Mit einer gleichgültigen Bewegung wischte er kleine Eisstückchen aus seinen Brauen und beobachtete, wie sie zwischen seinen Fingern schmolzen. Heftig rieb er sein frostkaltes Gesicht. Gab es hier kein Feuer? Er sah sich um. Die Hitze kam wie durch Zauberei aus kleinen Fenstern. Aber wie herrlich sie war, wie verschwenderisch! Plötzlich hätte er sich am liebsten die Kleider vom Leib gerissen und in dieser Hitze gebadet. In meinem Haus brennt ein Feuer. Ich nehme dich mit dorthin. Wie aus einer Trance erwacht, lenkte er den Blick auf den fremden Bluttrinker. Er schalt sich selbst, dass er so tölpelhaft und stumm dagesessen hatte.
    Jetzt sprach der Bluttrinker laut: »Das ist nicht anders zu erwarten. Verstehst du meine Sprache?«
    »Es ist die Sprache, die man mit der Gabe des Geistes hört«, sagte Thorne. »In der ganzen Welt wird sie gesprochen.« Wieder starrte er den Bluttrinker an.
    »Mein Name ist Thorne«, sagte er. »Thor war mein Gott.« Mit einem schnellen Griff in seinen abgeschabten ledernen Mantel zog er ein goldenes Amulett unter dem Pelz hervor, das an einer Kette hing.
    »Nicht einmal durch die Zeit kann dies hier Rost ansetzen«, sagte er, »das ist Thors Hammer.« Der Bluttrinker nickte.
    »Und deine Götter?«, fragte Thorne. »Welche waren das? Ich spreche jetzt nicht davon, woran du glaubst, ich spreche von dem, was wir verloren haben, du und ich. Verstehst du, was ich meine?«
    »Es waren die Götter Roms; die habe ich verloren«, sagte der Fremde. »Mein Name ist Marius.«
    Thorne nickte. Es war so wunderbar, laut zu sprechen und die Stimme eines anderen zu hören. Einen Moment lang vergaß er seine Gier nach Blut, ihn verlangte nur nach einer Flut von Worten.
    »Sprich zu mir, Marius«, sagte er. »Erzähl mir Staunenswertes. Erzähl mir alles, was du gern erzählen möchtest.« Er versuchte, Zurückhaltung zu üben, aber es gelang ihm nicht.
    »Einmal habe ich mich hingestellt und mit dem Wind gesprochen, habe ihm alles erzählt, was in mir, in meinem Kopf, in meinem Herzen vorging. Doch als ich mich dann nach Norden wandte, ins Eis, da hatte ich keine Worte.« Er brach ab und blickte Marius unverwandt in die Augen.
    »Meine Seele ist zu sehr verletzt worden. Ich kann nicht einmal mehr richtig denken.«
    »Ich verstehe dich«, sagte Marius. »Komm mit mir zu meinem Haus. Ein Bad wartet auf dich und alles Nötige an Kleidern. Dann jagen wir, um dich zu kräftigen, und danach erst kommt das Reden. Ich kann dir unendlich viele Geschichten erzählen. Ich werde dir Geschichten aus meinem Leben erzählen, die ich gern mit jemandem teilen möchte.«
    Ein langer Seufzer stahl sich über Thornes Lippen. Er konnte ein dankbares Lächeln nicht unterdrücken, er hatte feuchte Augen, und seine Hände zitterten. Er forschte im Gesicht des Fremden. Er fand keinen Hinweis darauf, dass er unehrlich oder hinterlistig war. Der Fremde wirkte weise und schlicht.
    »Mein Freund«, sagte Thorne, beugte sich vor und bot ihm den Begrüßungskuss. Er biss sich in die Zunge, bis sein Mund voller Blut war, und dann öffnete er seine Lippen über denen des Fremden. Für Marius kam dieser Kuss nicht überraschend, denn auch er übte diesen Brauch. Er nahm das Blut entgegen und genoss es offensichtlich.
    »Nun können wir nicht mehr über Nichtigkeiten streiten«, sagte Thorne. In plötzlicher Verwirrung sank er gegen die Wand zurück. Er war nicht mehr allein! Er fürchtete, in Tränen auszubrechen. Er fürchtete, dass ihm die Kraft fehlte, abermals in die grässliche Kälte hinauszugehen und den Fremden zu dessen Haus zu begleiten. Aber ihm blieb keine Wahl.
    »Komm«, sagte Marius, »ich helfe dir.« Sie erhoben sich gemeinsam vom Tisch.
    Dieses Mal empfand er wahre Höllenqualen, als er sich durch die Menschenmenge schob, so viele hell strahlende Augen hefteten sich auf ihn, wenn auch nur flüchtig.
    Dann waren sie wieder in der schmalen Gasse, inmitten weicher, tanzender Schneeflocken, und Marius hatte seinen Arm fest um ihn geschlungen. Thorne rang nach Atem, weil sein Herz so in Aufruhr geraten war. Er merkte, dass er den Schnee, der ihm in Böen ins Gesicht trieb, zwischen den Zähnen zerbiss. Er musste einen
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