Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
aufgeregt -es war wieder das gleiche: Erinnerung an alte Ängste, Verwirrung. Hätte Lestat eine Spur Verstand besessen, dann hätte er mir die Sache ruhig und geduldig erklären können - daß ich das Moor nicht zu fürchten brauchte, daß mir Schlangen und Insekten nichts anhaben konnten und daß ich mich auf meine neue Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen, konzentrieren müsse. Statt dessen irritierte er mich mit Verwünschungen. Er war nur auf unsere Opfer bedacht und darauf, mit meiner Einweihung möglichst schnell fertig zu werden.
Und als wir schließlich auf unsere Opfer stießen, drängte er mich zur Tat. Es war ein kleines Lager geflohener Sklaven. Lestat hatte sie schon vorher aufgesucht und sich vielleicht über ein Viertel von ihnen hergemacht, indem er im Dunkeln wartete, bis einer das Feuer verließ, oder sie im Schlaf überfiel. Sie wußten absolut nichts von Lestats Gegenwart. Wir mußten eine gute Stunde warten, ehe einer der Männer - es waren alles Männer - die Lichtung verließ und ein paar Schritte zwischen die Bäume hineinging, um seine Notdurft zu verrichten. Lestat packte mich an der Schulter und sagte: ›Greif ihn!‹ « Der Vampir lächelte, als er sah, wie der Junge große Augen machte. »Ich glaube, ich war ebenso von Grauen gepackt, wie du es gewesen wärest«, sagte er. »Damals wußte ich nicht, daß ich auch Tiere statt Menschen töten konnte. Ich sagte schnell, ich könnte ihn unmöglich nehmen. Der Sklave hörte mich sprechen, drehte sich um, den Rücken dem Feuer zugekehrt, und äugte ins Dunkel. Dann zog er schnell und geräuschlos ein langes Messer. Er war nackt bis zum Gürtel, ein hochgewachsener, kräftiger junger Mann. Er sagte etwas auf patois und trat vorwärts. Obwohl ich ihn deutlich erkannte, vermochte er uns nicht zu sehen. Lestat sprang ihn mit verblüffender Geschwindigkeit von hinten an, packte ihn im Nacken und hielt ihm den linken Arm fest. Der Sklave schrie auf und versuchte Lestat abzuschütteln, der ihm nun seine Zähne in den Hals grub. Der Sklave erstarrte, wie von einer Schlange gebissen, und stürzte auf die Knie, während Lestat in vollen Zügen trank. Die anderen Sklaven kamen herbeigelaufen. ›Du machst mich krank‹, sagte Lestat, als er wieder bei mir war. Es war, als seien wir schwarze Insekten, unsichtbar in der Nacht. Wir sahen, wie die Sklaven den Verwundeten entdeckten und ihn nach Hause zogen; dann schwärmten sie in den Wald aus, um den Angreifer zu suchen. ›Komm, wir müssen uns noch einen holen, ehe sie alle ins Lager zurückkehren‹, sagte Lestat. Und schnell machten wir uns hinter einem her, der ein wenig abseits war. Ich war noch schrecklich aufgeregt, überzeugt, ich brächte es nicht fertig, einen Menschen anzugreifen, und fühlte auch nicht das Verlangen dazu. Wie ich schon erwähnte, gab es mancherlei, was Lestat hätte sagen und tun können. Er hätte in vieler Beziehung das Erlebnis bereichern können. Doch er unterließ es.« »Wie hätte er es tun können?« fragte der Junge. »Was meinen Sie?«
»Töten ist keine alltägliche Handlung«, sagte der Vampir. »Es ist nicht nur so, daß man sich am Blut satt trinkt.« Der Vampir schüttelte den Kopf. »Man erfährt das Leben eines anderen, und auch das Dahinschwinden dieses Lebens durch das Blut. Für mich ist es immer wieder die Erinnerung an das Vergehen meines eigenen Lebens, an damals, als ich das Blut aus Lestats Adern saugte und sein und mein Herz schlagen hörte. Es ist immer wieder das feierliche Begehen dieses Erlebnisses; denn für Vampire ist dies das entscheidende Erlebnis.« Er sagte es ernst und nachdrücklich, als diskutiere er mit jemand, der eine andere Ansicht hatte. »Ich glaube. Lestat hat das nie richtig erkannt, obwohl ich nicht weiß, warum. Etwas ahnte er schon, aber sehr wenig, glaube ich, von dem, was man davon wissen muß. Jedenfalls nahm er sich nicht die Mühe, mich jetzt daran zu erinnern, was ich gefühlt, da ich mich, als gelte es das Leben, an sein Handgelenk geklammert hatte und es nicht hatte loslassen wollen, oder sorgfältig eine Gelegenheit zu wählen, wo ich meine erste Tötung mit Maß und Würde hätte erleben mögen. Statt dessen stürzte er sich kopfüber in die Sache, als sei es eine Angelegenheit, die man so rasch wie möglich hinter sich bringen müsse. Als er sich des Sklaven bemächtigt hatte, hielt er ihm den Mund zu und entblößte seinen Hals. ›Tu’s‹, sagte er. ›Du kannst nicht mehr zurück.‹ Von Ekel erfüllt und wie
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