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Chalions Fluch

Chalions Fluch

Titel: Chalions Fluch
Autoren: Lois McMaster Bujold
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überschritten hatte. Dennoch raubte ihm der Aufstieg den Atem, und beinahe wäre er umgekehrt. Auf der Hügelkuppe blies ein heftiger Wind, strich über den Boden und zerzauste die silbrigen Grasbüschel des trockenen Wintergrases. Cazaril trat aus dem Wind in die stille, schattige Finsternis der Mühle und stieg eine wacklige Treppe hinauf, die sich an der Innenwand emporschraubte. Er blickte durch die ungesicherte Fensteröffnung ins Freie.
    Auf der Straße unter ihm trieb ein Mann sein braunes Pferd den Weg zurück. Er war kein Krieger, sondern einer der Diener. In der einen Hand hielt er die Zügel, in der anderen einen dicken Knüppel. Hatte sein Herr ihn zurückgeschickt, um dem Vagabunden die irrtümlich gespendete Münze wieder aus dem Fell zu klopfen? Der Reiter verschwand um die Biegung und kam ein paar Minuten später wieder zurück. An dem schlammigen Rinnsal hielt er inne, drehte sich im Sattel hin und her und ließ den Blick über die einsamen Hänge schweifen. Schließlich schüttelte er widerwillig den Kopf und gab seinem Tier die Sporen, um wieder zu seinen Gefährten aufzuschließen.
    Cazaril bemerkte erst jetzt, dass er lachte. Es war ein merkwürdiges, unvertrautes Gefühl, ein Zittern in den Schultern, das ausnahmsweise einmal nicht von Kälte, Schrecken oder quälender Furcht herrührte. Und er empfand eine seltsame Leere, die Abwesenheit von … ja, was? Bohrendem Neid? Glühendem Verlangen? Cazaril wollte sich den Ordensrittern nicht länger anschließen, sie nicht einmal anführen! Er wollte nicht mehr zu ihnen gehören. Er hatte ihre Parade so unbeteiligt verfolgt, wie ein Mann die Gaukler auf dem Marktplatz beobachten mochte.
    O Götter, bin ich müde! Und hungrig! Er war noch einen viertel Tagesmarsch von Valenda entfernt – erst dort würde er einen Geldwechsler finden, der den Royal in brauchbarere Kupfer-Vaidas tauschen konnte. Heute Nacht allerdings würde er dank des Segens der Herrin in einem Gasthaus schlafen und nicht in einem Kuhstall. Er konnte sich eine warme Mahlzeit leisten. Er konnte sich eine Rasur leisten, ein Bad …
    Er drehte sich um. Allmählich gewöhnten seine Augen sich an das Zwielicht in der Mühle. Dann sah er den Körper, der auf dem schuttbedeckten Boden lag, alle viere von sich gestreckt.
    Einen Moment erstarrte Cazaril vor Schreck; dann atmete er durch, als er erkannte, dass der Körper eben dies nicht tat: Kein Lebender konnte so reglos in einer so merkwürdig verkrümmten Haltung daliegen. Nun, vor Toten hatte Cazaril keine Angst. Aber was für diesen Tod verantwortlich war …
    Obwohl der Leichnam sich nicht rührte, nahm Cazaril ein loses Trümmerstück vom Boden, ehe er näher trat. Der Tote war ein fülliger Mann mittleren Alters, wie die grauen Strähnen im sauber geschnittenen Bart verrieten. Das Gesicht unter den Barthaaren war angeschwollen und puterrot. War der Mann erdrosselt worden? Doch an seiner Kehle waren keine dahin gehenden Anzeichen zu sehen.
    Seine Kleidung war schmucklos, aber von erster Güte, wenngleich sie schlecht saß, zu eng und straff. Die Robe aus brauner Wolle und der schwarze, ärmellose Mantel mit der silber verzierten Kordel mochten das Gewand eines reichen Kaufmanns sein, oder eines niederen Adligen mit nüchternem Geschmack … oder eines ehrgeizigen Gelehrten. Auf jeden Fall gehörte es nicht zu einem Bauern oder Handwerker. Auch nicht zu einem Soldaten. Die Hände, die gleichfalls gelbrot gefleckt und geschwollen waren, wiesen keine Schwielen oder Verletzungen auf. Cazaril blickte auf die eigene linke Hand, wo zwei fehlende Fingerglieder davon zeugten, dass man nie leichtfertig in ein Halteseil greifen sollte. Der Mann trug keinen sichtbaren Schmuck, keine Ketten oder Ringe oder Fibeln, die zur teuren Kleidung gepasst hätten. War zuvor bereits ein Plünderer hier gewesen?
    Cazaril biss die Zähne zusammen und beugte sich vor, um einen genaueren Blick auf den Toten zu werfen. Schmerzen und Krämpfe bestraften seine Bewegung. Nein, weder saß die Kleidung des Mannes schlecht, noch war der Tote fett – sein ganzer Körper war unnatürlich angeschwollen, wie schon das Gesicht und die Hände. Aber in diesem Stadium der Verwesung hätte der Gestank die gesamte trostlose Ruine ausfüllen müssen – schlimm genug, um Cazaril schon beim ersten Blick durch die beschädigte Tür die Kehle zuzuschnüren. Doch es roch nicht nach Tod, sondern nach einem Moschus-Duftwasser oder Räucherwerk, nach abgestandenem Rauch und kaltem
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