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Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Titel: Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
Autoren: Jakob Wassermann
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bin ich denn?«
    »Aber, Hauser, in Ihrem Bett sind Sie,« beruhigte ihn Quandt. »Es kommt ja bei Kranken öfter vor, daß sie sich an einem andern Ort zubefinden wähnen,« wandte er sich erklärend an den Pfarrer Fuhrmann.
    »Geben Sie ihm zu trinken,« sagte dieser.
    Die Lehrerin brachte ein Glas frisches Wasser.
    Als Caspar getrunken hatte, wischte ihm Quandt den kalten Schweiß von der Stirn. Er selber bebte an allen Gliedern. Er beugte sich über den Jüngling und fragte dringend, feierlich beschwörend: »Hauser! Hauser! Haben Sie mir nichts mehr zu sagen? Sehen Sie mich einmal so recht aufrichtig an, Hauser! Haben Sie mir nichts mehr zu beichten?«
    Da packte Caspar in höchster Herzensnot die Hand des Lehrers. »Ach Gott, ach Gott, so abkratzen müssen mit Schimpf und Schande!« stieß er jammernd hervor.
    Das waren seine letzten Worte. Er kehrte sich ein wenig auf die rechte Seite und drehte das Gesicht zur Wand. Jedes Glied seines Körpers starb einzeln ab.
    Zwei Tage später wurde er begraben. Es war nachmittags und der Himmel von wolkenloser Bläue. Die ganze Stadt war in Bewegung. Ein berühmter Zeitgenosse, der Caspar Hauser das Kind von Europa nennt, erzählt, es sei zu der Stunde Mond und Sonne gleicher Zeit am Firmament gestanden, jener im Osten, diese im Westen, und beide Gestirne hätten im selben fahlen Glanz geleuchtet.
    Etwa anderthalb Wochen später, drei Tage nach Weihnachten, es war Abend und Quandt und seine Frau wollten sich eben zu Bett begeben, erschallten starke Schläge gegen das Haustor.Sehr erschrocken, zögerte Quandt eine Weile; erst als sich die Schläge wiederholten, nahm er das Licht und ging, um zu öffnen.
    Draußen stand Frau von Kannawurf. »Führen Sie mich in Caspars Zimmer,« sagte sie zum Lehrer.
    »Jetzt noch? In der Nacht?« wagte dieser einzuwenden.
    »Jetzt, in der Nacht,« beharrte die Frau.
    Ihr Wesen schüchterte Quandt dergestalt ein, daß er stumm zur Seite trat, sie vorangehen ließ und mit dem Licht folgte.
    In Caspars Zimmer erinnerte wenig an den Verstorbenen. Es war alles umgestellt und verräumt. Nur das Holzpferdchen stand noch auf dem Ecktisch neben dem Fenster.
    »Lassen Sie mich allein,« gebot Frau von Kannawurf. Quandt stellte den Leuchter hin, entfernte sich schweigend und wartete in Gemeinschaft mit seiner Frau unten an der Stiege. »Es ist sehr gutmütig von mir, daß ich mir so etwas in meinem Hause gefallen lasse,« murrte er.
    Mit verschränkten Armen schritt Clara von Kannawurf im Zimmer auf und ab. Ihr Blick fiel auf den Tisch, wo eine Abschrift des Sektionsprotokolles lag; es ging daraus hervor, daß man nach dem Tode Caspars die Seitenwand seines Herzens ganz durchstochen gefunden hatte. Clara nahm das Papier mit beiden Händen und zerknitterte es in ihren Fäusten.
    Was fruchtet aller Schmerz und Reue? Man kann nicht die Gewesenen aus Luft zurückgestalten; man kann der Erde nicht ihre Beute abfordern. Tränen beruhigen; aber diese Trauernde hatte keine Tränen mehr; für sie waren keine Sternemehr, kein Glanz des Himmels; für sie wuchs kein Gras mehr, duftete keine Blume mehr, ihr schmeckte der Tag nicht mehr und die Nacht nicht mehr, für sie hatte sich alles Menschentreiben, ja selbst das Schaffen der Elemente in eine einzige düstere Wolke von nie wieder gutzumachender Schuld zusammengeballt.
    Es mochte eine halbe Stunde verflossen sein, als Clara wieder herabkam. Sie blieb ganz dicht vor dem Lehrer stehen, und während sie ihn mit weitaufgeschlagenen Augen ansah, sagte sie bebend und kalt: »Mörder.«
    Dies war für Quandt etwa so, wie wenn man ihm einen Schwefelbrand unter die Nase gehalten hätte. Es läßt sich denken, der wackere Mann war vollkommen ahnungslos; im Schlafrock, gesticktem Hauskäppchen und mit Schlappschuhen an den Füßen wartet er, daß der ungebetene Gast sein Haus wieder verlasse, und da fällt ein Wort, wie es nicht einmal ein böser Traum erzeugen kann.
    »Das Weib ist wahnsinnig! Ich werde sie zur Rechenschaft ziehen,« tobte er noch im Bette.
    Clara wohnte bei Imhoffs. Sie fand die Freundin noch auf. Frau von Imhoff sagte ihr, daß man morgen auf den Kirchhof gehen wolle, weil das Kreuz auf Caspar Hausers Grab errichtet werde. Frau von Imhoff empfand Claras Schweigsamkeit wie einen Alpdruck und erzählte, erzählte. Vieles von Caspar, vieles von denen, die um ihn waren. Quandt wolle ein Buch schreiben, worin er haarklein nachzuweisen gedenke, daß Caspar ein Betrüger gewesen; daß Hickel den Dienst
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