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Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Titel: Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
Autoren: Jakob Wassermann
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daß sie den Jüngling nach Hause führen möchten, er selbst wolle zur Polizei. Die Männer mußten erst geraume Weile warten, bis sich Caspar ein wenig erholt hatte; auch dann hielt es schwer, ihn zum Gehen zu bewegen.
    Es wurde später von den Ärzten als eine Unbegreiflichkeit bezeichnet, daß Caspar mit der furchtbaren Verletzung in der Brust imstande gewesen war, den Weg vom Hofgarten zum Lehrerhaus, hernach vom Lehrerhaus zum Schloßplatz und endlich vom Schloßplatz wieder nach Hause zurückzulegen, das erstemal laufend, das zweitemal am Arme Quandts, das drittemal von den Männern halb gezogen, im ganzen über sechzehnhundert Schritte.
    Als Quandt den Weg nach dem Rathaus einschlug, war es finster geworden. Der diensttuende Offiziant erklärte, daß ohne speziellen Auftrag des Bürgermeisters, der im Bade sei, die Anzeige nicht protokolliert werden dürfe. Der Lehrer schwatzte noch eine Weile mit ihm, dann begab er sich unwillig und verdrossen in die eine Viertelstunde vor der Stadt gelegene Kleinschrottsche Badewirtschaft, wo der Bürgermeister im Kreis seiner Vertrauten beim Bier saß. Quandt trug den Fall vor. Man staunte, zweifelte, plädierte, bestieg den Amtsschimmel und gestattete hierauf die förmliche Protokollaufnahme. Um sechs Uhr wurde das interessante Aktenprodukt bei Laternen- und Kerzenschein dem Stadtgericht zur weiteren Untersuchung übergeben.
    Quandt kehrte nach Hause zurück. Auf der Gasse vor seiner Wohnung fand er viele Menschen, und zwar waren es Personen jeglichen Standes, die dem Unwetter zum Trotz gekommen waren und in einem Schweigen verharrten, das den Lehrer stutzig machte. Er ging sogleich in das Zimmer Caspars, der zu Bett gebracht worden war. Der Doktor Horlacher war zugegen. Er hatte die Wunde schon untersucht.
    »Wie steht’s?« fragte Quandt.
    Der Doktor antwortete, es sei kein Grund zu ernster Besorgnis vorhanden.
    »Das dacht’ ich mir,« versetzte Quandt.
    Jetzt erschien der Hofrat Hofmann. Ein Polizeisoldat hatte ihm unten den lilafarbenen Beutel übergeben, der an der Unglücksstätte gefunden worden war.
    »Kennen Sie diesen Beutel?« fragte der Hofrat.
    Mit fieberglänzenden Augen blickte Caspar auf den Beutel, den der Hofrat öffnete. Es lag ein Zettel darin, der, so schien es zunächst, mit Hieroglyphen bedeckt war.
    Die Lehrerin, die dabeistand, schüttelte den Kopf. Sie zog ihren Mann beiseite und sagte zu ihm: »Es ist doch eigen; genau so legt der Hauser immer seine Briefe zusammen, wie das Papier im Beutel zusammengefaltet war.«
    Quandt nickte und trat an die Seite des Hofrats, der den Zettel erst prüfend betrachtete und dann einen Handspiegel verlangte.
    »Es ist wohl Spiegelschrift,« sagte Quandt lächelnd.
    »Ja,« erwiderte der Hofrat; »eine sonderbare Kinderei.«
    Er stellte Schrift und Spiegel einander gegenüber und las vor: »Caspar Hauser wird Euch genau erzählen können, wie ich aussehe und wer ich bin. Dem Hauser die Mühe zu sparen, denn er könnte schweigen müssen, will ich aber selber sagen, woher ich komme. Ich komme von der bayrischen Grenze am Fluß. Ich will Euch sogar meinen Namen verraten: M. L. O.«
    »Das klingt ja geradezu höhnisch,« sagte der Hofrat nach einem verwunderten Schweigen.
    Quandt nickte erbittert vor sich hin.
    Als Caspar die vorgelesenen Worte vernommen hatte, fiel sein Kopf schwer in das Kissen und eine grenzenlose Verzweiflung malte sich in seinen Zügen. Es schloß sich sein Mund mit einem Ausdruck, als wolle er von nun an nie mehr reden. Und
daß
er hätte reden können, womit dieser M. L. O. offenbar nicht gerechnet hatte, empfand er bis in das Fieber hinein als eine Art schmerzlichen Triumphes.
    Quandt, den Zettel, den ihm der Hofrat gegeben, zwischen den Händen, wanderte aufgeregt hin und her. »Das sind schöne Streiche,« rief er aus, »schöne Streiche! Sie halten das Mitleid Ihres Jahrhunderts zum besten, Hauser. Sie verdienen eine Tracht Prügel, das verdienen Sie.«
    Der Hofrat runzelte die Stirn. »Gemach, Herr Lehrer; lassen Sie das doch!« sagte er mit ungewöhnlich ernstem Ton. Bevor er sich verabschiedete, versprach er, am nächsten Morgen den Kreisphysikus zu schicken, woraus ersichtlich war, daß auch er an keine unmittelbare Gefahr dachte.
    Indes kam der Kreisphysikus, von Frau von Imhoff dazu bewogen, noch am selben Abend. Es war der Medizinalrat Doktor Albert. Er untersuchte Caspar mit großer Sorgfalt; als er fertig war, machte er ein bedenkliches Gesicht. Quandt, seltsam gereizt
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