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Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Titel: Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
Autoren: Jakob Wassermann
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Gebüsch entlang und senkte den Kopf herunter, um sein Gesicht vor dem nassen Schneestaub zu schützen, den ihm der Wind entgegenspritzte. Er machte ein paar Bewegungen mit dem Körper, als suche er in der Erde eine Höhlung zum Hineinschlüpfen, konnte dann nicht weiter und blieb sitzen. Ihm schien, als riesle etwas im Innern seines Leibes. Es fror ihn jetzt erbärmlich.
    Möcht’ sehen, was in dem Beutel ist, dachte er, während seine Zähne klapperten. O ungeheurer Schrecken, der ihn abhielt, nach jener Stelle zu blicken, wo der Fremde gestanden.
    Wenn ich nur ein Wort wüßte, durch das mir leichter würde, dachte er, wie einer, der sich durch Zauberformeln zu schützen wähnt. Und er sagte zweimal: »Dukatus«.
    Welches Wunder, plötzlich ward ihm leicht. Er glaubte aufstehen und nach Hause gehen zu können. Er erhob sich. Er sah, daß er gehen konnte. Nachdem er einige taumelnde Schritte gemacht, fing er an zu laufen. Ihm war, als ob sein Körper ohne Schwere sei, ihm war, als fliege er. Er lief, lief, lief. Bis zum Tor des Gartens; über den Schloßplatz; über den Markt an der Kirche vorbei; bis zum Kronacher Buck, bis in den Flur des Quandtschen Hauses; lief, lief, lief.
    In Schweiß gebadet, stürzte er in den Flur. Weiter ging’s nicht mehr; keuchend lehnte er sich an die Wand. Die Magd gewahrte ihn zuerst. Über sein Aussehen entsetzt, gab sie einen gellenden Schrei von sich. Da kam Quandt aus der Stube; seine Frau folgte ihm.
    Caspar starrte ihnen entgegen, sprach aber nichts, sondern deutete bloß auf seine Brust.
    »Was ist geschehen?« fragte Quandt rauh und kurz.
    »Hofgarten – gestochen,« stammelte Caspar.
    Und Quandt? Wir sehen ihn schmunzeln. Nichts andres: wir sehen ihn schmunzeln. Und wenn Jahrhunderte, feierlich in Purpur angetan wie Gottes Engel, auf uns zutreten und uns beschwören, die Tatsachen nicht zu verzerren, soist nichts andres zu erwidern, als daß Quandt schmunzelte, seltsam schmunzelte. »Wo sind Sie denn gestochen, mein Lieber?« fragte er gedehnt.
    Wieder deutete Caspar auf seine Brust.
    Quandt knöpfte ihm Rock, Weste und Hemd auf, um die Wunde anzuschauen. Richtig, da war ein Stich, nicht größer als eine Haselnuß. Aber nicht die geringste Spur von Blut war zu bemerken. Eine Wunde ohne Blut, das gibt es nicht; das ist wie eine Behauptung ohne Beweis.
    »Also gestochen,« sagte Quandt. »So lassen Sie uns sofort umkehren und zeigen Sie mir den Platz im Hofgarten, wo das passiert sein soll,« fügte er energisch hinzu. »Was haben Sie denn zu dieser Stunde und bei solchem Wetter im Hofgarten zu tun gehabt? Marsch, kommen Sie! Die Sache muß unverzüglich aufgeklärt werden.«
    Caspar widersprach nicht. Er schleppte sich an des Lehrers Seite wieder auf die Gasse. Quandt faßte ihn unter, wie ein Krüppel schlich Caspar dahin.
    Nach langem Schweigen sagte Quandt in verbissenem Ton: »Diesmal haben Sie Ihren dümmsten Streich gemacht, Hauser. Diesmal wird es keinen so guten Ausgang nehmen wie beim Professor Daumer, das kann ich Ihnen schriftlich geben.«
    Caspar blieb stehen, warf einen schnellen Blick gen Himmel und sagte: »Gott – wissen.«
    »Machen Sie nur keine Faxen,« zeterte Quandt, »ich weiß, was ich weiß. Wenn Sie sich auch noch so sehr auf Gott berufen, damit haben Sie bei mir kein Glück, denn Sie sindein gottloser Mensch von Grund auf. Ich kann Ihnen nur raten, spielen Sie nicht länger die Stumme von Portici und gestehen Sie lieber gleich. Ein wenig bange machen wollen Sie uns, die Leute wollen Sie durcheinander hetzen. Gestochen? Wer soll Sie denn gestochen haben? Vielleicht um Ihnen Ihre jämmerlichen paar Moneten aus der Tasche zu ziehen? So ein Unsinn! Gehen Sie nicht so langsam, Hauser, meine Zeit ist knapp.«
    »Den Beutel – will ich holen,« stammelte Caspar leise.
    »Was denn für einen Beutel?«
    »Der Mann – mir gegeben.«
    »Was für ein Mann?«
    »Der mich gestochen.«
    »Aber Hauser, Hauser, es ist ja himmelschreiend! Bilden Sie sich denn ein, daß ich an diesen Mann nur im entferntesten glaube? So wenig wie an den schwarzen Peter. Bilden Sie sich denn ein, daß ich über den wahren Täter einen Augenblick im Zweifel bin? Gestehen Sie’s doch! Gestehen Sie, daß Sie sich selber ein bißchen gestochen haben. Ich will über die Sache noch einmal schweigen, ich will Gnade für Recht ergehen lassen.«
    Caspar weinte.
    Dicht vor dem Hofgarten brach er plötzlich zusammen. Quandt war verwirrt. Es kamen einige Männer des Weges, diese bat er,
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