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Carre, John le -Ein Mord erster Klasse (Smiley Bd 2)

Carre, John le -Ein Mord erster Klasse (Smiley Bd 2)

Titel: Carre, John le -Ein Mord erster Klasse (Smiley Bd 2)
Autoren: Unbekannt
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machte sie genauso weiter wie zuvor und hörte auf, sich
zu wundern.
    Und sie
war glücklich. Es war leicht, über die »Stimme« die Nase zu rümpfen. Jede Woche
bot sie, demütig und ohne Fanfaren, Beweise für das Eingreifen des Herrn in
das Weltgeschehen, erzählte sie in einfachen und ziemlich unwissenschaftlichen
Wendungen die Frühgeschichte der Juden und versah in einer Rubrik unter einem
Phantasienamen jeden, der deswegen schreiben oder danach fragen mochte, mit
mütterlichem Rat. Die »Stimme« befaßte sich kaum mit den rund fünfzig Millionen
der Bevölkerung, die nie von ihr gehört hatten. Sie war eine Familienangelegenheit,
und anstatt die zu verunglimpfen, die nicht zu ihr gehörten, tat sie lieber ihr
Bestes für die, die dazugehörten. Für diese war sie gütig, optimistisch und
informativ. Wenn in Indien eine Million Kinder an der Pest starben, konnte man
sicher sein, daß der Leitartikel der Woche von der wunderbaren Errettung einer
Methodistenfamilie in Kent aus Feuersnot berichtete. Die »Stimme« beriet einen
nicht, wie man die zunehmenden Fältchen um die Augen beseitigen oder die sich
ausdehnende Figur kontrollieren könne; sie entmutigte einen, wenn man alt war,
nicht durch ihre eigene ewige Jugend. Sie gehörte selbst zum mittleren Alter
und zur Mittelklasse, sie riet Mädchen Vorsicht und allen Nachsicht an.
Nonkonformismus ist die konservativste aller Gewohnheiten, und Familien, die
die »Stimme« 1903 abonniert hatten, abonnierten sie auch 1960 weiter.
    Miss Brimley
war nicht ganz das Abbild ihrer Zeitschrift. Das Kriegsgeschick und die Launen
der Arbeit in der militärischen Abwehr hatten sie mit dem jüngeren Lord
Landsbury in Partnerschaft gebracht, und in den sechs Kriegsjahren hatten sie
tüchtig und unauffällig in einem namenlosen Gebäude in Knightsbridge
zusammengearbeitet. Die Wechselfälle des Friedens machten sie beide arbeitslos,
doch Landsbury war nicht nur so klug, sondern auch so großzügig, Miss Brimley
einen Posten anzubieten. Die »Stimme« hatte während des Krieges ihr Erscheinen
eingestellt, und niemand schien erpicht darauf, sie wieder herauszugeben.
Zuerst hatte Miss Brimley sich etwas beschämt gefühlt, eine Zeitschrift
wiederzubeleben und herauszugeben, die in keiner Weise ihren eigenen vagen Gottesglauben
ausdrückte; aber sehr bald, als die rührenden Briefe eintrafen und die Auflage
sich erholte, entwickelte sie eine Zuneigung zu ihrer Arbeit - und zu ihren
Lesern-, die ihre früheren Bedenken überwog. Die »Stimme« war ihr Leben, und
ihre Leser waren ihre Hauptbeschäftigung. Sie bemühte sich, ihre kuriosen,
besorgten Fragen zu beantworten, suchte Rat von anderen, wenn sie ihn nicht
selbst geben konnte, und wurde mit der Zeit unter einer Handvoll Decknamen wenn
nicht ihr Philosoph, so doch ihre Führerin, Freundin und Tante für alles.
    Miss
Brimley machte ihre Zigarette aus, räumte geistesabwesend Zwecken und
Büroklammern, Schere und Leim in die rechte obere Schublade ihres
Schreibtisches und raffte die Nachmittagspost aus ihrem Eingangskörbchen zusammen,
die sie, weil Donnerstag war, unberührt gelassen hatte. Darunter waren einige
an Barbara Fellowship adressierte Briefe, unter welchem Namen die »Stimme« seit
ihrer Gründung sowohl privat wie in ihren veröffentlichten Spalten die vielen
Zuschriften ihrer Leser beantwortet hatte. Sie konnten bis morgen warten. Sie
hatte Freude an der »Problem-Post«, aber diese wurde am Freitagvormittag
gelesen. Sie öffnete den kleinen Ablageschrank, der knapp neben ihr stand, und
ließ die Briefe in einen kleinen Ablagekasten vorn im Schrank fallen. Dabei
drehte einer sich um, und sie bemerkte überrascht, daß die gesiegelte Klappe
mit einem eleganten blauen Delphin geprägt war. Sie nahm den Umschlag aus dem
Schrank und besah ihn neugierig, ihn mehrfach umwendend. Er war aus hellgrauem
Papier, ganz schwach liniert. Teuer - vielleicht handgeschöpft. Unter dem
Delphin befand sich ein winziges Schriftband, auf dem sie die Inschrift gerade
noch erkennen konnte: Regem defendere
diem videre. Der Poststempel war Carne, Dorset. Das mußte das
Schulwappen sein. Aber warum war ihr Carne vertraut? Miss Brimley war stolz auf
ihr Gedächtnis, das ausgezeichnet war, und es ärgerte sie, wenn es sie im Stich
ließ. Als letzten Ausweg öffnete sie den Umschlag mit ihrem Papiermesser aus
vergilbtem Elfenbein und las den Brief.
     
    Sehr
geehrte Miss Fellowship, ich weiß nicht, ob Sie wirklich existieren, aber das
spielt
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