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Cantz schoen clever

Cantz schoen clever

Titel: Cantz schoen clever
Autoren: Guido Cantz
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(Riesenschwamm): 10 000 Jahre
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    Der Scolymastra Joubini ist also der Alterspräsident der Evolution. Kein Lebewesen hält so lange durch. Ich finde es erstaunlich, dass ein Riesenschwamm 10 000 Jahre alt werden kann. Sein Kollege, der früher in meinem Klassenzimmer im Eimer an der Tafel hing, war sicherlich jünger. Auch wenn er nicht danach roch.
    Ich kann mir vorstellen, dass so ein Riesenschwamm das Altwerden ganz gelassen meistert. Denn er besitzt immense Routine: Er hat in den ersten 1000 Jahren seines Daseins schon alles gesehen; spätestens nach 2000 Jahren jammert er nicht mehr, wenn ihm etwas wehtut; und außerdem erwartet er nicht, dass seine Kinder ihn einmal die Woche besuchen kommen. Wie anders sind da wir Menschen: Uns fehlt die Gelassenheit des Scolymastra Joubini, dieses … Schwammige. Der Riesenschwamm hat halt ein paar tausend Jahre Erfahrungsvorsprung. Und das, obwohl der durchschnittliche Todeszeitpunkt des Menschen seit Jahrzehnten immer weiter in die Ferne rückt.
    Ein Grund dafür ist die verbesserte Medizin: Gegen die meisten Übel, die unser Leben bedrohen, gibt es irgendein pharmazeutisches Mittel. Echte Feinde hat unser Körper eh kaum noch. Kein Wunder, bei den Unmengen von Antibiotika, die wir während unseres Lebens einnehmen – entweder freiwillig oder über die mit Antibiotika gefütterten Hühnchen. Die Folge ist, dass wir Deutschen immer älter werden. Deutschland wird Greisenland. Es muss sich noch zeigen, was das für uns bedeutet: Fluch oder Segen.
    Zumindest sind die aktuellen Senioren deutlich vitaler als in meiner Jugend. Heute sind achtzigjährige Menschen sportlich, aktiv und lebenslustig: Sie reisen, lesen, radeln, bilden sich weiter und nehmen den jungen Leuten die Studienplätze weg. Meine Großeltern waren viel passiver. Mitsechzig hatten sie nur noch ein einziges Hobby: Jeden Mittag um halb zwölf setzten sie sich vors Küchenfenster, schauten auf die Straße und warteten darauf, dass draußen noch einmal der Führer vorbeikommt. Und wenn mein Großvater keine Lust mehr hatte, guckte meine Oma einfach allein weiter. Dann rief sie ihm zu: »Otto, ich mach noch eine Stunde Fenster.« Damals sagte man dazu »aus dem Fenster gucken«. Heute heißt das »Google Street View«. Das Küchenfenster nahm das Internet vorweg, und es hatte sogar Vorteile gegenüber dem World Wide Web: Es verbrauchte keinen Strom, alles war live, und es gab keine Werbung.

    Alles war damals viel einfacher: Geburt, 15 Jahre groß werden, 45 Jahre arbeiten, 10 Jahre Küchenfenster. Und Schluss. Heute ist das ganz anders: Da fängt das richtige Leben erst mit der Rente an. Früher kaufte man sich mit 65 Jahren das letzte Auto, heute tut man das mit 80. Und danach macht man sich Gedanken über das erste Motorrad.
    Und das ist auch gut so, denn niemand, der heute ins gesegnete Lebensalter eintritt, möchte 40 Jahre lang Tauben füttern. Dass die Menschen immer älter werden, konnte ich letztens in Baden-Baden beobachten, als ich in der Straßenbahn stand: Eine 75-Jährige musste ihren Sitzplatz räumen, weil sie die Jüngste im ganzen Wagen war. Andere verzichten darauf, ihre Goldene Hochzeit zu feiern – sie wollen erst einmal abwarten, ob es wirklich was Ernstes ist. Die Senioren des 21. Jahrhunderts vertreten das Motto: »Leben, bis der Arzt kommt.«
    Aber nicht alle stehen der demografischen Entwicklung positiv gegenüber. Versicherungsunternehmen sprechen in Bezug auf die Auszahlung von Renten- und Lebensversicherungen schon von einem »biometrischen Langlebigkeitsrisiko«. »Risiko« deshalb, weil die Versicherer dann länger zahlen müssen. Den Begriff »Langlebigkeitsrisiko« hat sich wahrscheinlich derselbe Sprachkünstler ausgedacht, der sich auch die berüchtigte »Gewinnwarnung« hat einfallen lassen. Während die Versicherungen noch verzweifelt nach Antworten auf die Vergreisung unserer Gesellschaft suchen, hat die Wirtschaft längst geschaltet und die neue Konsumentengruppe in ihre Arme geschlossen: Niemand hat so viel Zeit, so viel Geld auszugeben, wie die Rentner. Es wird nicht mehr lange dauern, und das Fernsehen stellt sein Programm entsprechend um. Ich warte auf Erfolgsshows wie Wer wird Pensionär , Bauer sucht Altenpflegerin oder Schlag den Sensenmann . Das Ganze wird natürlich gesponsert von der Hamburg Alzheimer.
    So begrüßenswert es ist, dass ältere Menschen das Leben in vollen Zügen genießen können, so problematisch wird es in Zukunft für die Generation meines
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