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Canale Mussolini

Canale Mussolini

Titel: Canale Mussolini
Autoren: Pennacchi Antonio
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Dass man ihnen auch zu essen geben musste? Natürlich musste man ihnen zu essen geben, aber auch wieder nicht so viel, was man eben so fand. War das Kind kräftig, wuchs es von allein heran. Und wenn es krank wurde, ging man ja nicht zum Kinderarzt und kaufte Medikamente. Großmutter zündete eine Kerze an und betete. Und es wurde gesund und wuchs heran zum Arbeiten. Oder es wurde nicht gesund und starb. Man weinte, betete, begrub es und zeugte noch eins. Alle machten das so, beileibe nicht nur wir. Um den Boden zu bestellen, brauchte man viele und kräftige Arme, etwas anderes gab es da nicht. Traktoren und all dieses Zeug von heute, das gab es noch nicht, und wenn Sie damals dabei gewesen wären, hätten Sie es auch so gemacht. Seit Jahrhunderten machte man das so, saecula saecolorum amen . Es gab ja keinen Wohlstand, es gab nur Hunger.
    Was sagen Sie? So war es schlimmer, das waren nur noch mehr Leute, die genauso Hunger litten? Für uns war das Arbeitskraft, was soll ich Ihnen sagen; wir hatten Hunger, und wir brauchten viele und kräftige Arme und Hände, um die Nahrung zu schaffen, den Reichtum. Aber auch jetzt, sind es denn nicht nur die Reichen, die keine Kinder mehr bekommen? Wir in Italien bekommen keine mehr, in Afrika dagegen sind sie noch arm und ersaufen auf dem Weg nach Lampedusa, um hierherzukommen, aber sie zeugen Kinder wie nichts. Erzählen Sie denen mal, dass sie keine bekommen sollten. Meinen Sie, die wissen das nicht, wenn sie ein Kind in die Welt setzen, das dann an Hunger oder an Aids stirbt? Eben deswegen zeugen sie ja so viele: »Früher oder später wird eins am Leben bleiben.« Man zeugt Kinder, weil man sie braucht, und je ärmer einer ist, umso mehr Kinder braucht er: Wenn man reich ist, genügen einem wenige.
    Onkel Iseo wollte jedenfalls auch mitgehen, er war der dritte Sohn, da bestanden nur zwei Jahre Altersunterschied zu Onkel Pericle, und sie waren immer Seite an Seite, auf dem Feld wie im Wirtshaus. Auch Onkel Pericle hätte lieber Iseo mitgenommen, denn man ging schließlich nicht nach Rom und war am nächsten Tag wieder zurück. Es gab ja keinen Eurostar-Zug wie heute. Wer weiß, wann man zurückkam, und manchmal war fraglich, ob überhaupt; dieses Mal vielleicht nicht, denn da hatte der Faschismus ja schon ein bisschen für Ordnung gesorgt, aber nur ein paar Jahre früher, als Italien noch geteilt war oder sich gerade erst vereint hatte, machten die Leute – abgesehen davon, dass es ihnen gar nicht in den Sinn kam, nach Rom zu gehen –, da machten die paar, die zur Wallfahrt oder zum Heiligen Jahr oder aus welchem vermaledeiten Grund auch immer hinwollten, ihr Testament, bevor sie aufbrachen, denn man wusste ja nie, was einem begegnete, von Briganten auf den Straßen und in den Wäldern bis zu Krankheiten, und wie lang man brauchen würde. Jedenfalls war das eine Sache, die man besser zusammen mit jemand unternahm, von dem man – wenn es um Kopf und Kragen ging – sicher sein konnte, dass er unverbrüchlich mit einem zusammenstehen und einen verteidigen würde wie seine eigene Haut. Das konnte man von Onkel Temistocle auch sagen, das stimmt, Onkel Pericle verstand sich mit ihm und hing an ihm. Onkel Temistocle war auch im Krieg gewesen, Kämpfe mit der blanken Waffe, das kannte er, und er wusste, was es hieß, jemandem die Kehle durchzuschneiden, damit er einem nicht die eigene durchschneidet. Das war im Krieg schließlich nicht nur einmal vorgekommen.
    Aber Onkel Iseo stand ihm näher. Später – als sie sich hier selbständig gemacht hatten und die Dinge nicht mehr so gut liefen, zuerst der Dammbruch am Canale Mussolini und dann der Hagel – meldeten sich beide, verlockt vom Sold, im letzten Weltkrieg als Freiwillige, und sie wurden nach Ostafrika geschickt, um es gegen die Engländer zu verteidigen, die in Kenia einmarschiert waren und Landrover und Panzerwagen hatten, solches Zeug, und wir nichts, nur Karabiner und Handgranaten, unsere Handgranaten, die Balilla SRCM aus Blech, die nur Eisendrahtsplitter versprühten, nicht wie die Ananas der Engländer, echte Handgranaten aus echtem Stahl. Und damals, als meine beiden Onkel im Qualm der Explosionen zum Angriff stürmten, ringsum Leute, die umfielen, und mit dem Truppführer, der »Vorwärts! Vorwärts!« brüllte, fand Onkel Iseo sich irgendwann auf den Knien, dann am Boden wieder und bekam keine Luft mehr. »Was ist passiert?«, dachte er und fasste sich mit einer Hand an die Seite, und beinah fand er sie nicht mehr,
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