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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Iris Radisch
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der algerischen Ursprungskultur. Die nicht auf Effizienz, sondern auf Subsistenz ausgerichtete Lebensweise der algerischen Ureinwohner, so Bourdieu, kannte kein «Pressiert-Sein und Sich-Überstürzen». Ein Mensch, der sich «unüberlegt in Handlungen stürzt, der pausenlos redet, der seine Arbeit so schnell verrichtet, dass er Gefahr läuft, ‹die Erde zu misshandeln›, der ungeduldig, unersättlich und gierig ist und das Maß nicht zu halten weiß», galt in dieser Kultur als dumm. Gewandtheit, Geschicklichkeit, Schlauheit, Berechnung und List waren Todsünden [38] , denen man eine Tugendlehre entgegenstellte, die «niya» genannt wurde und Unschuld, Naivität, Schlichtheit und Redlichkeit umfasste.
    Wer dieser Lehre folgte, beherrschte die Kunst, die Bedürfnisse zu mäßigen, Nüchternheit walten zu lassen und die Gier zu zügeln. Er stellte nur solche Beziehungen her, die auf Vertrauen beruhten, beschäftigte sich nur mit Dingen, die sein unmittelbares Leben berührten. Er hatte ein persönliches Verhältnis zu seinen Tieren und seinem Boden, wurde nicht von dem Ehrgeiz getrieben, auf die Zukunft Einfluss nehmen oder die Welt durch Arbeit verändern zu müssen. Ihm genügte es, die unmittelbaren Bedürfnisse zu befriedigen und sich der Natur anzupassen, statt sie zu unterwerfen und auszubeuten.
    Ob wahr oder gut erfunden – das ist das orientalische Erbe, aus dem Camus den Bauplan für sein Ideal der Einfachheit bezieht. Es sind solche Bilder, die ihm vorschweben werden, wenn er die westliche Welt durch das «mittelmeerische Denken» von ihren Fortschrittsideologien befreien möchte.

3. Kapitel Der Schmerz
    Ort und Zeit:
Algier 1932 . Parc d’Hydra 1933 . Deutschland, Österreich, Prag 1936 . Paris 1937 .
    Albert Camus ist der Liebling seines Lehrers Monsieur Germain. Der Weltkriegsveteran liest seinen Zöglingen den Roman
Hölzerne Kreuze
von Roland Dorgelès vor. Camus ist zu Tränen gerührt, sitzt schluchzend in seiner Bank. Zum ersten Mal hört er, wie es im Krieg war, in dem sein Vater gefallen ist. Der Roman erzählt von Soldaten, die ihre eigenen Gräber aushoben, bevor sie in die Schlacht zogen. Von Leichenbergen, hinter denen sie im Gefecht Feuerschutz suchten. Von Männern, die, von Kugeln durchlöchert, halbtot noch ein paar Schritte marschierten, bevor sie starben. La Grande Guerre, wie man den Ersten Weltkrieg in Frankreich nennt, war der erste schmerzhafte Riss in der bukolischen Jugend des Torwarts aus der Rue de Lyon in Algier.
    Noch bedeutender für Camus’ Initiation in die große europäische Sinnlosigkeit war jedoch ein anderes Buch, das den «Schmerz» schon im Titel trug. Verglichen mit den blutigen Panoramen der
Hölzernen Kreuze
von Dorgelès ist der schmale Roman
La Douleur
von André de Richaud aus dem Jahr  1931 ein intimes Kammerspiel des Grauens.
    Alles in diesem Roman musste dem Schüler vertraut vorkommen: Der Hausherr ist auf dem Feld der Ehre gefallen; die junge Witwe bleibt in Schmerz und Schweigen gehüllt; der Sohn, von ihrem Schweigen angesteckt, ist für die Mutter die letzte Erinnerung an eine intakte Vorkriegszeit. Die Witwe erwacht aus ihrer Erstarrung, als deutsche Kriegsgefangene im Dorf landen. Der Sohn verachtet seine Mutter und den deutschen Otto, dem sie sich in die Arme wirft. Am Ende ist die Protagonistin untröstlich – und schwanger. Eines Abends stolpert sie mit der brennenden Lampe auf der Treppe und stirbt in den Flammen, die ihr langes Kleid entzünden.
    Der schmale, im Ton existenzieller Nüchternheit abgefasste Roman trifft zu Beginn der dreißiger Jahre in Algier auf einen jungen Mann, der zum ersten Mal auf die Idee kommt, dass das Trauma seiner Kindheit zum literarischen Stoff taugen könnte:
    «Es war das erste Buch, das mir von dem erzählte, das ich kannte: eine Mutter, Armut, schöne Abende am Himmel. Das Buch löste in meinem Innersten einen dunklen Knoten, befreite mich von Fesseln, die ich spürte, ohne sie zu verstehen. Ich las es, wie immer, in einer Nacht. Und als ich erwachte, war ich erfüllt von einer neuen unbekannten Freiheit und betrat, noch zögernd, ein unbekanntes Land. Ich begriff plötzlich, dass Bücher nicht nur dazu da sind, Vergessen und Zerstreuung zu spenden. Mein verbohrtes Schweigen, diese unbestimmten, aber alles bestimmenden Leiden, diese einzigartige Welt, die mich umgab, die Noblesse der Meinen, ihr Elend, meine Geheimnisse, all das konnte man also ausdrücken!» [39]
    Die wortkarge Kleinstadttragödie einer
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