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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Autoren: Iris Radisch
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Zeit verschoben wird. So fühlt er sich. Sein literarisches Begleitprogramm zu diesem Urteil ist die Lektüre des griechischen Stoikers Epiktet.
    Als er das Krankenhaus – nicht geheilt – verlassen kann, rät man ihm, in die klamme Wohnung in der Rue de Lyon möglichst nicht zurückzukehren. Camus zieht daraufhin zur Schwester seiner Mutter, Antoinette, und zu deren Gatten, dem Fleischermeister Gustave Acault. Die Acaults wohnen in einem besseren Viertel, in der Rue de Languedoc; der Onkel unterhält hier eine kleine Bibliothek und die Tante vornehmes Geschirr. Der siebzehnjährige Neffe bekommt ein eigenes Zimmer. Das tägliche Hackfleisch auf den Tellern im Fleischerhaushalt soll den Lungenkranken kräftigen und die Heilung unterstützen. Sein großes Sommerglück am Strand, Baden und Fußballspielen sind ein für alle Mal beendet. Er ist verbittert und verändert sich. Die Krankheit bringt ihn, mehr noch als die Lehrer, zum Lesen und zum Schreiben. Eine Zeit der rauschhaften Lektüren beginnt. Sein Bruder Lucien behauptet bald, ihn gar nicht wiederzuerkennen.
    In seinem ersten eigenen Zimmer über der Fleischerei schreibt der dem Tod nur knapp Entronnene den kurzen Prosatext: «L’Hôpital du quartier pauvre» (Das Krankenhaus des Armenviertels). Der erste Satz ist ein hauchzarter Lyrismus: «Aus dem blauen Himmel senkte sich millionenfach ein kleines weißes Lächeln». [26] Dann kommt der Erzähler auf die Kranken, auf ihr Husten, ihre Hässlichkeit und Magerkeit zu sprechen. Ein gewisser Jean Perès soll trotz seiner kranken Lunge seine Frau zwei, drei Mal am Tag bestiegen haben. Die Krankheit habe ihn so wild gemacht. Doch ein kranker Mann halte so etwas nicht aus. Am Ende sei er gestorben. Überhaupt seien die meisten Kranken inzwischen gestorben, die anderen klammerten sich an die Hoffnung. Zwischendurch wird es einmal ganz still. Nur die Sonne ist zu sehen und, hoch oben am Himmel, ein Flugzeug.
    Nach zweieinhalb Seiten fällt der Vorhang. Die Geschichte ist zu Ende. Sie ist komisch und poetisch und lakonisch, als sei das nicht der Ort für viele Worte, als verstehe sich alles von selbst. In der Einsilbigkeit wohnt die Todesangst wie ein altbekannter Gast.

Gides
Früchte der Erde
    Onkel Acault ist ein lesender Fleischermeister, ein Genussmensch und ein Libertin, der seine Freizeit mit Victor Hugo, Anatole France und Honoré de Balzac verbringt. Er drückt dem kranken Neffen fürs Erste die Bücher von André Gide in die Hand. Gides algerischer Hymnus
Früchte der Erde
erschien 1897 , nach langen Reisen durch Tunesien und Algerien, die er mit dem Maler-Freund Paul Albert Laurens unternahm. Camus findet hier seine Welt wieder. Gide erkrankte in Algerien ebenfalls an Tuberkulose, und auch für ihn war die Krankheit nur ein Grund mehr, die Schönheiten dieses Landes zu besingen, den heißen Sand, die nackten Körper, die «wunderbare Strahlkraft jedes Augenblicks vor dem tiefdunklen Hintergrund des Todes» [27] .
    Wenn sich Camus später von Gide distanziert, soll man sich nicht täuschen lassen: Die
Früchte der Erde
haben einen großen Eindruck auf den schwer erkrankten Gymnasiasten gemacht. Gide ist Camus’ Erweckungserlebnis. Nachdem er dessen trunkene und ekstatische Essays gelesen hat, fasst er den Entschluss, Schriftsteller zu werden. Seine frühen algerischen Texte sind unmittelbar von Gides
Früchte der Erde
inspiriert. Legt man die Essays beider Autoren nebeneinander, fallen die Ähnlichkeiten beinahe auf jeder Seite ins Auge. Lesen wir bei Gide: «Mach keinen Unterschied zwischen Gott und deinem Glück und lege all dein Glück in den Augenblick» [28] ; so schreibt Camus: «Ich lerne, dass es kein übermenschliches Glück gibt und keine Ewigkeit außer dem Hinfließen der Tage». [29]
    In seinem Nachruf auf Gide wird Camus trotzdem darauf beharren, dass die
Früchte der Erde
 – von denen er immerhin einräumt, sie seien damals das «Evangelium der Armut» gewesen, dessen er bedurfte – kein Vorbild für ihn waren. Er habe das Buch dem Onkel enttäuscht zurückgegeben. In den Kriegsjahren habe er mit Gide in einer Wohnung in der Rue Vaneau gewohnt, das sei aber alles, was sie jemals geteilt hätten. [30]
    Der Grund für diese merkwürdige Abkehr von Gide war der stärkere Eindruck, den der wahre Meister und Lehrer seiner Jugendjahre, Jean Grenier, auf Camus machte. Noch im Vorwort zu dessen Jugendwerk
Die Inseln
, das Camus wenige Monate vor seinem Tod verfasste, spielt er die beiden
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