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Camorrista

Titel: Camorrista
Autoren: Giampaolo Simi
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gleichen Namen und das gleiche Gesicht wie ich hat, doch sie hat keinen Nachnamen, keine Adresse, weder Vater noch Mutter. Wie Reja es mir gesagt hat.
    Während die Kollegen über das Schloss fluchen, postiere
ich mich ein paar Meter von dem Gefangenen entfernt. Dieser junge Bastard ist nicht viel größer als ich. Er trägt ein Fleece-Shirt mit einer Kapuze, die er über den Kopf gezogen hat, sodass ich ihm nicht ins Gesicht sehen kann, was auch an seiner Pilotensonnenbrille liegt, mit der er erst richtig wie ein Arschloch aussieht. Er zieht die Nase hoch. Ein volles Geräusch, so ähnlich, wie wenn es in der Kupplung kracht oder sich ein Schloss endlich bewegt.
    Doch. Das Lipgloss hat funktioniert. Sie geben es mir zurück, ohne irgendwelche Bemerkungen zu machen. Ich gehe als Erste rein, suche mit der Taschenlampe den Weg, den ich heute Nachmittag mit Frate Jacques gegangen bin. Ich höre die Kofferraumtür zuschlagen und sehe, dass Reja sich eine große Sporttasche auf die Schultern lädt. Morano packt den Jungen an einem Arm und lässt ihn durch das Tor eintreten.
    Wir gehen zwischen Beeten mit Kreuzen durch, die alle gleich aussehen, ohne einen Namen oder ein Datum, und betreten das Kloster. In einer Ecke steht eine Lambretta ohne Räder, die so alt scheint wie die Gedenksteine für die Wohltäter und die kleinen Durchreichefenster. Die Tür hat nur einen Riegel, doch man muss ihn zurückschieben, ohne allzu viel Lärm zu machen. Ich schaffe es, ohne jemanden um Hilfe bitten zu müssen (Gott sei Dank).
    Hinten im Gang brennt die Notbeleuchtung. Die Läden der großen Fenster stehen offen, in der Luft liegt noch der typische weiche Geruch des Refektoriums, eine Mischung aus schmierigen Öfen und gekochter Pasta. Ich suche den kleinsten Schlüssel, den glänzenden, neuen, den mit dem roten Schildchen. Ich drehe mich um, und mir wird klar, dass die Kollegen nur bis hierher mitkommen.
    Jetzt ist es wirklich mein Ding. Das erste Aufeinandertreffen ist bei solchen Typen alles. Wenn du einer Bestie in die Augen schaust, musst du sicher sein, dass sie zuerst den Blick senkt. Wenn nicht, ist es besser, dass du den Käfig gleich verlässt. Das erzählte mein Vater jedes Mal, wenn er mit uns in den Zirkus ging. Er erzählte allerdings nicht, dass sie die
Tiger mit Bromid vollstopfen (doch diese Bestie ist mit Koks, Crack und solchem Zeug wie dem aus diesen Fläschchen vollgestopft, und das ist nicht das Gleiche).
    Morano bleibt am Anfang des Gangs stehen, und Reja gibt unserem Ehrengast die Sporttasche. Doch der packt sie sich nicht etwa auf die Schulter, nein, er schleift sie einfach über den Boden. Ich stoppe ihn mit einem Fuß und mache ihm ein Zeichen: Blöd oder was?
    Er muss blöd sein. Ich bin echt gezwungen, es ihm zu sagen.
    »Die Tasche hoch, danke. Die Treppe rechts, schnell.«
     
    Als ich die Tür aufmache, sieht er auf seine Füße, bewegungslos, als ginge es ihn nichts an, mitten in der Nacht an einem neuen Ort zu sein. Im Schein des Wandlämpchens haben die quadratischen Fliesen des Fußbodens eine Farbe wie Kotze, und der alte Schrank wirkt wie ein stehender Sarkophag. Bett und Kommode sind das schäbige Mobiliar des Kämmerchens, doch auf dem Tisch stehen ein Feldblumenstrauß und ein Tablett mit Obst. Ich rieche an einer Aprikose, während er die Tasche in eine Ecke wirft (erste Regel: nicht aggressiv sein).
    »Die sieht gut aus.«
    Ich werfe sie ihm zu, aber der kleine Bastard macht keinerlei Anstalten, sie aufzufangen, sondern lässt sie zwischen seine Schuhe rollen.
    Ich schließe die Tür, nehme den geflochtenen Stuhl und stelle ihn mitten ins Zimmer, zwischen ihn und mich.
    Der große Capozona schiebt nicht mal die Kapuze aus der Stirn und legt sich quer aufs Bett, den Nacken an die Wand gelehnt und die Hände in den Taschen. Ich setze mich rittlings auf den Stuhl. Wie ein Bulle. Das bin ich, das erwartet er, und das muss ich sein. Breitbeinig, wie ein Mann (ich bin keine Frau, nicht für ihn).
    »Ich heiße Rosa.«
    (Null Reaktion.)

    »Wie du heißt, weiß ich. Aber von jetzt an ist es, als wüsste ich es nicht. Und hier drinnen darf es niemand wissen.«
    Ich warte ein paar Sekunden, dann schiebe ich ein zusammengefaltetes Blatt unter das Obsttablett.
    »Lies dir das vorm Einschlafen gut durch. Lern es auswendig, wenn du kannst. Jedenfalls will ich es morgen früh um neun unterschrieben zurück. Sonst kannst du gleich wieder nach Hause gehen.«
    Unter seiner Kapuze schauen lange und wirre
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