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Camorrista

Titel: Camorrista
Autoren: Giampaolo Simi
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Lust vergangen, Streit zu suchen.
    Und zum Glück hat das Funkgerät im Auto mit seinen Pfeiftönen erst begonnen, als wir schon rückwärts fahren. Aus der Einsatzzentrale teilen sie uns mit, dass es eine Programmänderung gegeben hat. Der Treffpunkt ist verlegt worden: auf eine Raststätte an der A1, zwischen Incisa und Valdarno.
    »Das sind bestimmt fünfzig Kilometer«, knurrt Morano.

    »O nein«, sage ich.
    »Oder auch mehr. Wofür haben die uns verdammt noch mal hier eine Stunde rumstehen lassen?«
    Er sieht nach, ob ich angeschnallt bin, geht mit Vollgas in die Kurve und deckt dabei die Madonna mit Schimpfwörtern ein, wie es nicht mal mein Großvater getan hat. Meine Mutter versuchte immer, mir die Ohren mit ihren Fingern voller Ringe zuzuhalten (heute trägt sie nur noch den Ehering und einen kleinen Ring mit Brillanten).
     
    Diese fünfzig Kilometer sind wie Rückwärtszählen. Die letzte Stunde in Freiheit vor einer Verurteilung. Und Morano ist ein besessener Kilometerfresser, immer eine brennende Zigarette in der Hand.
    Ab und zu brennt Licht im Fenster irgendeines Einfamilienhauses. Wir sind ein rasender Lärm in der nächtlichen Stille. Hin und wieder spüren die Scheinwerfer ein aufblasbares Schwimmbecken oder eine bunte Rutsche im Dunkel auf.
    Ich stelle mir einen Augenblick lang vor, ich wäre in einem dieser Häuser, läge unter Laken und auf Kissen, die nicht nur meinen Geruch hätten. Normale Sorgen und rituelle Familienessen. Ein Mann und zwei Kinder, ja, wenigstens zwei, ganz klar. Er schnarcht vielleicht, oder vielleicht verlangt er fast jeden Abend eheliche Pflichterfüllung, und sei es nur als selbstverständliche Belohnung dafür, wie er sich im Leben den Arsch aufreißt. Ich merke, dass sich der Rauch von Moranos Zigaretten auf meine Haare legt wie ein Spinnennetz. Ich schäme mich für den Gedanken, dass ich auch ein solches Leben akzeptieren würde - lieber, als hier zu sein, wo ich bin, mit Morano, in einem Auto, das nach Asche und schmutzigen Fußmatten stinkt und um zwei Uhr nachts zu einer Raststätte an der A1 rast (ich hoffe nur, dass sie dort eine Toilette haben).
    Morano zieht den Ärmel seines T-Shirts hoch und kratzt sich über die gotischen Lettern auf seinem Bizeps. Ich habe
nie kapiert, was da steht. Vielleicht ist es der Name der Frau, die ihn sitzen gelassen hat, während er im Kosovo war. Aber was gehen mich jetzt Morano und seine Probleme an? Er wirft mitten im Überholen die Zigarette weg, sagt dann zu mir: »Nur um das klarzustellen: Je weniger ich diesen Kerl sehe, desto besser.«
    »Und ich, was soll ich dazu sagen? Je früher er auspackt, desto besser.«
    »Zu einfach. Und selbst wenn er die Schlampe verpfeifen will, die ihn zur Welt gebracht hat - von mir aus, aber dann bitte im Gefängnis. Ich würde ihn Steine klopfen und die Klos putzen lassen, wie in Amerika.«
     
    Wir sind kurz vor der Mautstelle. Ich habe keine Lust, es ihm zu sagen, aber er hat nicht ganz unrecht. Mich widert so einer wie der auch an, und diese dringlichen Sonderschutzmaßnahmen scheinen mir doch von den Regeln abzuweichen. Aber da ich null Erfahrung habe und ebenso wenig zu sagen, außerdem mein Gehalt verzweifelt brauche, halte ich den Mund.
    »Sie sollten ihn in Einzelhaft stecken. In ein Gefängnis im Norden.«
    Ich suche nach Einwänden.
    »Du kannst ihn nicht in ein Vakuum einschließen. Es gibt den Hofgang, das Duschen, die Mahlzeiten. Wenn sie jemanden im Gefängnis beseitigen wollen, schaffen sie das früher oder später immer.«
    Morano nimmt das hin, doch er ist nicht zufrieden, und auch ich spüre, dass dies nicht der wahre Grund ist, da ist noch etwas anderes. Um mir Mut zu machen, denke ich wieder an den Jäger der Morgenröte. 230 Millionen Jahre gegen eine Woche. Inzwischen zieht Morano die Schlussfolgerungen.
    »Wenn er sich danebenbenimmt, sagst du es mir, und ich kümmere mich darum, ihn wieder auf Vordermann zu bringen. Aber ansonsten musst du allein damit fertig werden. Ich
verlasse mich darauf. Ich habe Wichtigeres zu tun …« (Jetzt aber mal nicht übertreiben, Kollege.)
    »Kein Problem.«
    Wir fahren mit achtzig auf die Telepass-Passierstelle zu. Ich schließe die Augen. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe jedes Mal Angst, dass das Piep nicht kommt und die Schranke sich nicht hebt.
    Vielleicht habe ich dieses Mal wirklich gehofft, dass wir nicht durchgelassen werden.
     
    »Raststätte 0,5 km.« Sinnlos, früher oder später mussten wir ja ankommen.
    Morano
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