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Camorrista

Titel: Camorrista
Autoren: Giampaolo Simi
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seiner Depression herauszukommen, während er darauf wartet, aus dem Gefängnis herauszukommen. Was in zwei oder drei Jahren passieren könnte.
    Hin und wieder schicke ich ihm über einen Kollegen ein paar mit dem Computer ausgedruckte Zeilen. Ich danke ihm, versichere ihm, dass ich die CDs höre, sage ihm aber ehrlich, was ich von seinen Gedichten halte. Dass sie schrecklich sind.

    Der Psychologe sagt, dass ich es genau so machen soll, und auch seine Familie ist einverstanden.
     
    »Am Ende hat das Mädchen es nicht geschafft, vor Gericht zu gehen und alles zu erzählen, sondern die Aussagen zurückgenommen und gesagt, sie könnte sich nicht mehr richtig erinnern. Es heißt auch, die Familie Chiarella hätte ein - nennen wir es mal - Schmerzensgeld akzeptiert.«
    »Und von wem?«
    »Was weiß ich? Auf jeden Fall haben seine Komplizen den größten Teil der Schuld auf sich genommen und sind im Gefängnis gelandet, weil sie schon volljährig und vorbestraft waren. Die Entführung konnte Cocíss nicht nachgewiesen werden, und er hat ein Jahr Jugendstrafe bekommen und ist dann wegen guter Führung nach acht Monaten entlassen worden.«
    »Und als er rausgekommen ist, hat der kleine Engel mit Drogen angefangen.«
    »Er ist der Verantwortliche für ein Gebiet geworden: Capozona mit gerade mal siebzehn.«
    »Mit siebzehn, Scheiße«, wiederholt der Kollege und legt die Hand mit der Zigarette aufs Steuer. Morano kommt mir noch neurotischer vor als sonst. Und auch sein T-Shirt aus Acryl riecht mehr nach Schweiß als sonst. Ich sollte es ihm irgendwann mal sagen (er hat keine Frau mehr, die solche Sachen bemerkt). »Da gibt es überhaupt keine Grenzen mehr. Die sind alle vollkommen verrückt geworden.«
    Es ist halb zwei, seit einer Stunde stehen wir an der Stelle, wo die Schotterstraße zum Weinberg abgeht. Auf der Landstraße kommt schon ewig kein Mensch mehr vorbei. Dunstschleier liegen in der windstillen Luft. Nur der Glockenturm der Abtei ist beleuchtet. Er überragt um ein Weniges die Spitzen der Zypressen, auf dieser Anhöhe über zwei engen, steilwandigen Schluchten, in denen Brombeeren wuchern. Der Schlüssel war nicht ohne eine kleine Lektion von Frate Jacques über die Abtei Spaccavento zu haben. Nach der Legende
sind die Schluchten durch Klauenschläge eines Dämons entstanden, der die Abtei zerstören wollte. Tatsächlich scheint sie wie eine Festung auf einem Felsausläufer erbaut. Aber so ist es nicht. Die Abtei stand mitten auf einem sanften Hügel, der im siebzehnten Jahrhundert abzurutschen begann, Stück für Stück, bis auch die unbeugsamsten Mönche den Ort verließen. Dann, in der Nachkriegszeit, hat irgendjemand die Geschichte aufgebracht, dass der Erdrutsch aufgehört und die Abtei unversehrt gelassen habe, sei ein Zeichen des Herrn. Die Klauenschläge des Dämons hätten die Festung des Glaubens nicht zerstören können. Die Bomben der Alliierten auch nicht
    - und so ist Geld für die Restaurierung geflossen.
    Ich erzähle die kleine Geschichte, um meinen Kollegen Morano ein bisschen zu zerstreuen. Er tut so, als würde er zuhören, aber sie interessiert ihn überhaupt nicht. Er hat fast ein halbes Päckchen geraucht, ich habe in kleinen Schlucken meine Flasche Wasser ausgetrunken: Zwei Liter an einem Tag sind keine Kleinigkeit. Und in Kürze werde ich bestimmt wahnsinnig dringend müssen, das ist mal sicher.
    »Was für ein Dreckskerl, kaum schnappen sie ihn, bereut er schon.« Er nimmt einen letzten Zug, und da der Aschenbecher überquillt, wirft er die Kippe auf die Fußmatte. »Verdammte Scheiße noch mal.«
    »Er hat nicht bereut. Er kooperiert.«
    »Ah.«
    »Das ist was anderes.«
    »Anders daran ist, dass er nicht ins Gefängnis muss.« Morano hat keinen Sinn für Feinheiten, aber was diesen Punkt angeht, habe ich auch nicht recht verstanden, wie die Dinge liegen. Vorläufig müsste Cocíss im Gefängnis bleiben. Mir fällt ein, wie Reja heute Nachmittag über den Punkt hinweggegangen ist.
    »Ich versuche noch mal, jemanden zu erreichen«, sage ich, doch als ich gerade die Hand nach dem Funkgerät unter dem Armaturenbrett ausstrecke, packt er mich am Handgelenk. Er hat einen Zangengriff.

    »Da ist jemand«, sagt er. Er hebt schwer atmend die Brust und kramt unter seiner Jacke herum.
    »Wo denn?«
    »Im Weinberg. Da hat sich was bewegt.«
    »Bestimmt ein Tier.«
    Er schüttelt den Kopf. Seine Augen sind aufgerissen. Er lässt mein Handgelenk los, duckt sich und macht leise die Tür auf.
    »Du
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