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Camorrista

Titel: Camorrista
Autoren: Giampaolo Simi
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sie noch nicht.«
    »Wie das?«
    »Sie sind fehlgeleitet worden, aber sie kommen im Laufe des Tages an.«
    Er spült es mit einem Schluck hinunter, scheint jedoch nicht überzeugt.
    »Was macht er?«
    »Er schläft.«
    »Und wir, was wollen wir machen?«
    »Ihn so ruhig wie möglich halten.«
    »Das heißt, er soll den ganzen Tag lang in seinem Zimmer bleiben?«
    »Es ist eine schwierige Zeit für ihn. Wahrscheinlich will er selbst gar nichts anderes.«
    »Haben Sie mit ihm gesprochen?«
    »Sagen wir: Ich habe es versucht.«
    »Möchten Sie einen Kaffee?«
    So, wie er mich fragt, hat er total verstanden, dass ich dringend einen brauche. Ich folge ihm in eine Küche, so groß wie die eines Hotels. Da sind zwei junge Mädchen mit schlauen Augen, die weiße Hauben tragen, eine stämmige farbige Frau und eine ein Meter neunzig große Kreolin. Sie sehen uns sofort an, alle. Wegen meines Kaffees wendet sich der Padre an die Kreolin. Ihre Nägel sind rubinrot lackiert, in den Haaren hat sie blonde Strähnchen, und sie duftet nach Vanille und Jasmin (schade nur, dass sie diese Möbelpackerschultern hat).
    »Na, Joséphine«, sagt Padre Jacopo. »Hast du dich entschieden?«
    »Nein«, antwortet sie, verschränkt die Arme und lehnt sich an den Metallic-Kühlschrank, der ein wenig höher ist als sie.
    »Lass dir doch eine Spielerlaubnis ausstellen. Auch wenn du nur sechs oder sieben Monate spielst. Das ist alles Geld, das du beiseitelegen kannst.«

    »Und wenn dann die Psychologen bei dem Gespräch denken, dass ich es mir anders überlegt habe? Dass ich männliche Sachen mache?«
    »Aber nein, auch Frauen spielen Fußball.«
    »Und wenn sie wollen, dass ich die Therapie abbreche? Dann lassen sie mich die Operation nicht mehr machen.«
    Der Akzent ist brasilianisch, die Stimmlage Bariton. Die Diskussion geht noch eine Weile weiter: Die lange Transe und der Priester reden über die Spielerlaubnis und über Sport-BHs. Joséphine hat Angst, dass hinter ihrem Rücken alle lachen und dass sie außerdem dicke Schenkel bekommt. An diesem Punkt gibt Padre Jacopo es auf.
    »Tu, was du für richtig hältst. Aber in der Küche setz bitte eine Haube auf.«
    Joséphine zieht eine Grimasse und gehorcht. Padre Jacopo seufzt betrübt und reicht mir die kleine Tasse.
    »Mit siebzehn schon Reservespieler bei Botafogo.«
    »Wirklich?«, frage ich lächelnd (aber was ist Botafogo?).
     
    Als ich zu meinem Schützling zurückkehre, ist es halb zehn. Cocíss schläft jetzt auf dem Bauch, ein Arm hängt aus dem Bett, seine Finger streifen den Boden.
    Ich mache ein paar Schritte auf dem Flur (noch zehn Minuten, was ändert das schon?), trinke meinen ersten halben Liter Wasser des Tages und spähe verstohlen in den botanischen Garten der Mönche. Abgesehen von Lavendel, Eisenkraut und Thymian kann ich keine der anderen Pflanzen benennen. In einem kleineren Garten sitzen jetzt die beiden Mädchen, die ich in der Küche gesehen habe, auf einer Bank, rauchen und unterhalten sich angeregt, ihre bloßen Füße gegen einen großen Terrakotta-Topf mit einem riesigen Rosmarin gestützt. Es ist ein Tag der langsamen, ausgefransten Wolken, man versteht noch nicht recht, was aus ihm wird. Der Typ mit dem roten Sweatshirt kommt durch das Haupttor zurück. Er bückt sich, schwankt auf seinen knochigen Knien und macht die Leine vom Halsband des Hundes ab. Doch der
kleine Mischling entfernt sich höchstens einen halben Meter von ihm.
    Ich gehe zurück auf den Gang und setze mich in eine Art Holzsessel ohne Lehnen. Betrachte die geschlossene Tür. Wie mag Loredana Chiarella geschrien haben, als Cocíss und seine Komplizen ihr die Wangen und die Lippe abgeschmirgelt haben? Die Akne der Heranwachsenden blutig weggekratzt. Wie eine Unvollkommenheit. Eine Schuld. Ein Luxus. Versuch mit deinem eigenen Kopf zu denken, deine Würde einzufordern, und du wirst bedroht und geschlagen (und ich muss den beschützen).
    Das ist meine Spezialität: Vor einer geschlossenen Tür stelle ich mir Sachen vor und fange auch noch an zu philosophieren. Doch die Philosophie hat mir nicht geholfen, eine Arbeit zu finden. Vielleicht ist auch die Philosophie ein Luxus, und das ist der Punkt, wo ich mich geirrt habe.
    Ich will mich nicht mehr irren. Daniele Mastronero, genannt Cocíss, muss das Papier mit den Regeln unterschreiben und seine Tarndokumente erhalten. Das will ich bis heute Abend erreicht haben, und dann will ich eine ganze Nacht ruhig schlafen. Mein kleines, ersehntes Ziel.
     
    Um
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