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Bushido

Bushido

Titel: Bushido
Autoren: Michael Fuchs-Gamboeck , Georg Rackow
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wieder wegrennen, egal wohin, aber Ashraf und Arafat klopften mir auf die Schulter und beruhigten mich.
    »Bruder, mach dir keine Sorgen. Wir lassen dich nicht allein!«
    Also los.
    Arafat klingelte an der Tür und keine zwei Sekunden später ertönte auch schon das Summen des Türöffners. Ich konnte mich nicht mehr an das Stockwerk erinnern, und wir hatten auch keine Lust zu laufen, also warteten wir, bis der Fahrstuhl das Erdgeschoss erreicht hatte.
    »Lass uns einfach mal im Dritten aussteigen und dann gucken wir, wo die Tür offen ist«, schlug Ashraf vor.
    Wir nickten. Der Aufzug kam, die Türen sprangen auf, wir machten schon einen Schritt nach vorn, als mein Vater plötzlich vor uns stand. Einfach so.
    Obwohl Arafat und Ashraf ihn noch nie gesehen hatten, wussten sie sofort Bescheid. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Ich blieb wie angewurzelt stehen und mein Vater kam weinend auf mich zu. Er konnte wegen seiner halbseitigen Lähmung, die von einem Schlaganfall herrührte, nicht mehr richtig gehen und stolperte eher unbeholfen auf mich zu. Scheiße, was sollte ich machen? Ich war mit der Situation vollkommen überfordert. Er umarmte mich und ließ mich einfach nicht mehr los. Niemand sagte etwas. Seine Tränen wurden von meinem Pullover aufgesogen. Ich schaute in die hilflosen Gesichter meiner Freunde. Nach vielleicht zwei Minuten ließ mich mein Vater los und drehte sich zu Arafat um, küsste ihn zur Begrüßung auf die Wangen und bedankte sich, dass er seinen Sohn endlich zu ihm geführt hätte. Er nannte Arafat auf Arabisch »den großen Onkel«. Dann küsste er auch Ashraf und wir zwängten uns zu viert in den kleinen Aufzug. Ich kam mir vor wie in einer Konservenbüchse. Im fünften Stock stiegen wir aus. Die Wohnung war im Gegensatz zu damals sehr sauber und aufgeräumt. Der Tisch im Wohnzimmer war, wie es in arabischen Familien üblich ist, bereits gedeckt.
    Nachdem wir Platz genommen hatten, fing mein Vater sofort wie-
der an zu weinen. Er führte eine Art Monolog, redete mehr mit sich, als mit uns, dankte unentwegt Gott und schickte auf Arabisch Gebete in den Himmel: »Endlich bist du hier, mein Sohn. Endlich kann ich meinen Frieden finden. Allah hat meine Gebete gehört.«
    Arafat versuchte, ihn wieder in die Realität zurückzuholen, aber mein Vater bekam vor Aufregung gar nicht mit, dass er überhaupt mit ihm redete.
    Seit meinem letzten Besuch hatte sich mein Vater extrem verändert. Er war zwar noch nie sehr groß und kräftig gewesen, aber nun bestand er nur noch aus Haut und Knochen. Seine vielen Krankheiten hatten ganze Arbeit geleistet. Dazu kamen diese riesigen Hörgeräte an beiden Ohren. Großer Gott, mein Vater sah richtig schlimm aus. Er war tief in seiner eigenen Welt versunken, in der wir ihn erst mal allein ließen – mit sich und seinen Gedanken. Was sollte man auch großartig reden? Ich war nicht wegen der Gespräche zu meinem Vater gefahren. Er sollte mit meiner Hilfe seinen Frieden finden – das war alles.
    Als er sich nach etwa einer halben Stunde einigermaßen gefangen hatte, versuchte er aufzustehen und in die Küche zu gehen, doch Arafat hielt ihn auf dem Sofa zurück.
    »Onkel, sag mir nur wo«, meinte Arafat und legte seine Hand auf seine Schulter.
    »Nein, nein, nein, ich kann das selbst holen«, sagte mein Vater voller Stolz und raffte sich mit aller Kraft auf. Langsam schlürfte er mit seinem Hinkebein in die kleine Küche nebenan und kam mit drei Flaschen Orangensaft, Blutorangensaft und Wasser zurück.
    »Was wollt ihr essen? Es ist alles da«, sagte er, aber wir schüttelten nur dankend mit den Köpfen. Trotzdem legte er Kekse, Süßigkeiten, Kuchen und jede Menge Obst auf den Tisch. Wir waren zwar hungrig, aber durch die extreme Anspannung hätten wir keinen einzigen Happen runterbekommen.
    »Komm Onkel, setz dich wieder zu uns«, meinte Arafat.
    Ashraf nahm den Orangensaft und schenkte ein. Wir nahmen alle einen kräftigen Schluck und mein Vater begann, von meiner Mutter zu erzählen. Wie er sie damals kennengelernt hatte, wie er all die Jahre jeden Tag an sie denken müsse und wie sehr sie ihm noch immer am Herzen läge. Das aus seinem Mund zu hören, war schon extrem krass für mich. Ich hatte ja keine Ahnung. Seine ehemalige Lebensgefährtin war übrigens kurz nach meinem letzten Besuch vor vier Jahren an Krebs gestorben. Ironie des Schicksals?
    Seitdem war mein Vater also ganz allein. Ich wusste nie, wie schlecht es ihm wirklich ging. Okay, mir war
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