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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit
Autoren: Wolfgang Engler
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Schauspieler, der mit seiner Rolle nicht verschmilzt, sie vielmehr vorzeigt – als eine von vielen Möglichkeiten,
     zu sein und sich zu wandeln. Sie beherrscht die Methode der Verfremdung intuitiv: Seht her und erkennt in mir eine Köchin
     (für den einfachen Geschmack, nicht für den feinen Gaumen)! Nun schaut ein zweites Mal – |15| auf mich in dieser Rolle! Habt ihr bemerkt, daß ich mich darin nicht erschöpfe? Daß ich mich von mir selbst unterscheide und
     mein Beruf nur eine ungefähre Ahnung meines Wesens gibt? Müßte man den sozialen Gestus des Bildes mit einem Wort umfassen,
     dann wäre es die »Selbst-Abständigkeit«.
    2. Eine kurze Recherche zum Entstehungszusammenhang der Photographie enthüllt den sozialen Gestus zugleich als einen historischen,
     historisch-besonderen. Sie entstand im geschichtlichen Transit, zwischen Umbruch und Auflösung der DDR, als Teil des Projekts
     »Abschied und Anfang. Ostdeutsche Porträts 1989–1990«. Mit diesem Wissen ausgestattet, ist das Selbstbewußte, Fordernde, Mißtrauische
     im Ausdrucksverhalten der Köchin, ihr souveränes Spiel mit Situation, Kamera und Photograph, noch klarer zu entschlüsseln.
     Die Köchin hat soeben einen Staat zerbrochen, einige andere waren dabei, zugestandenermaßen, aber sie war dazu nötig, und
     zwar nicht als Köchin. Diese Erfahrung jemals wieder zu vergessen, scheint sie nicht gewillt. Koautorin eines epochalen Ereignisses,
     duldet sie keine Autoritäten über sich. Daß sich ein namhafter westdeutscher Photograph für sie interessiert, erscheint ihr
     folgerichtig. Nur hat die Köchin, die sie auch ist, in dieser Begegnung im Grunde nichts verloren – DAS zeigt sie ihm. Und
     er gibt ihrer Inszenierung Raum.
    »Er«, Stefan Moses, Bewahrer und Fortsetzer jener Tradition typologischer Photographie, die in Deutschland ihren ersten großen
     Höhepunkt im Werk von August Sander fand. Sein Kunstgriff – der neutralisierende Hintergrund eines grauen Filztuches, das
     die Einheit von Person und Umgebung unterbricht, die Porträtierten zur Stellungnahme gegenüber ihrer vertrauten sozialen Umwelt
     motiviert; eine Stellungnahme, die weit mehr einschließt als nur die Arbeit, die der- oder diejenige momentan verrichtet.
     Die Methode, den Wanderphotographen verpflichtet, aber auch Brechts theatraler Verfremdungstechnik, entwickelte Moses schon |16| in den frühen sechziger Jahren, als er begann, seine, die westdeutsche Gesellschaft in der ganzen Vielfalt ihrer beruflichen
     und sozialen Charaktere einzufangen. In der Umbruchszeit der DDR kam dieses Verfahren ganz zu sich. Menschen, die zwischen
     sich und ihre gesellschaftlichen Verhältnisse einen Trennungsstrich gezogen hatten, waren die berufenen Protagonisten für
     Moses’ technisch verfremdete Abbildungen. Historische Erfahrung und Darstellungsmethode ergänzten einander; eine Sternstunde
     der Geschichte zeugte eine Sternstunde der sozialen Photographie. Der glückliche politische Augenblick erhellte wie ein Blitzlicht
     zweierlei: das brüchig gewordene Verhältnis mündiger Menschen zu angemaßter Autorität sowie ihr sich lockerndes Verhältnis
     zur Arbeit, zum berufsmäßigen Erwerb.
    3. »Beruf« – das Wort steht für die umfassendste und elementarste Verortung der Menschen im sozialen Raum. In Gesellschaften
     der uns vertrauten Art üben fast alle Menschen einen Beruf aus, und fast alle begründen dadurch ihr Leben. Der Beruf ist soziale
     Gerinnungsform der Arbeit, Ausdruck ihres »ernsthaften« Charakters und zugleich Leitmedium der gesellschaftlichen Anerkennung.
     Als indirekter Beweis für diese Behauptung kann die erste Kontaktaufnahme einander unbekannter Personen in nichtssagenden
     Situationen dienen. Die das Gespräch in Gang setzende Frage lautet typischerweise nicht: »Wer bist du?« oder »Wofür interessierst
     du dich?«, sondern: »Was arbeitest du?«, abgeschwächter: »Was machst’n du so?« Die Eigenart des Gegenüber, seine Vorlieben,
     Begabungen werden über die Stelle abgetastet, die er oder sie im System der gesellschaftlichen Arbeits- und Funktionsteilung
     innehat. Liefert die Frage die erhofften Anknüpfungspunkte für einen näheren Austausch nicht, lautet die Antwort: »Ich habe
     derzeit keine Arbeit« oder »Ich tue gar nichts« – und das ist zunehmend häufiger der Fall –, zeigt das verblüffte Schweigen
     auf eine im Grunde erwartbare Reaktion noch immer |17| die Macht einer alten Gewohnheit. Vielleicht wird man, um
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