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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns
Autoren: Varujan Vosganian
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Essenzen von über hundert verschiedenen Kräutern gewonnen, wird über das alte gegossen und vom Katholikos mit dem Goldenen Arm umgerührt, sodass es die Beigaben des heiligen Gregor des Erleuchters bewahrt. Dieses erneuerte Salböl wird weltweit in alle armenischen Gemeinden verschickt und zum Dreikönigsfest in einen silbernen Vogel gegossen. Durch den Schnabel des Vogels werden ein paar Tropfen zur Wasserweihe ausgegossen. Ich selbst erhielt, als ich im versilberten Taufbecken der armenischen Kirche zur heiligen Maria in Focșani getauft wurde, mit diesem Salböl das Kreuzeszeichen auf die Stirn. Und wenn wir die Art und Weise bedenken, in der es von der Hand des Katholikos zubereitet wird, könnte man sagen, es habe noch ein paar Tropfen jenes ursprünglichen Salböls in sich, das nicht mit dem Goldenen Arm umgerührt worden war, sondern von Gregor dem Erleuchter mit dessen eigenem Arm. Das Salböl ist eine der immer noch jungen Gaben, die uns die alten Toten geschenkt haben. Ich bekam von meinem Großvater dessen innere Stimme auf ähnliche Weise übertragen, die älteren Worte waren in die neuen gegossen worden. Sodass diese innere Stimme, durch Generationen hindurch weitergetragen, vielleicht auch ein lebendiges Geschenk seitens der alten Toten ist. Eine Annahme, gewiss. Deren Bestätigung werde ich erst in dem Augenblick erhalten, da ich meinerseits diese Stimme jemand anderem anvertrauen werde, aber davon wird jemand anderes erzählen müssen.
    Ich habe jenes Zimmer nicht mehr betreten, bis Großmutter Arșaluis nach einer Woche mit dem Sinn für das Praktische, den sich die Frauen in tragischen Momenten bewahren, die Bettwäsche gewechselt, die Vorhänge beiseitegeschoben und die Fenster geöffnet hat. Der große Spiegel blieb bis zum Seelengedenken nach vierzig Tagen verhängt, aber ich kann bezeugen, dass ich in der Zeit mehrfach ins Zimmer hineingegangen bin und den schwarzen Schleier ein bisschen beiseitegeschoben habe, um in den Glanz des Spiegels zu schauen, als blickte ich durch eine angelehnte Tür. Er freute sich des Lichts wie ein angekettetes Tier, dem man etwas zu fressen bringt.
    Arșag, der Glöckner, saß unter den Vögeln, und je dichter sie auf den Ästen hockten, die größeren, schwarzen setzten sich mit angelegten Flügeln auf die Wege und Beete, umso stärker überkam ihn das Gefühl, sie seien seinetwegen gekommen, also entschuldigte er sich bei den Vögeln mit ausgestreckten Armen. Und als sich der erste Vogel auf seiner Schulter niederließ, unter Missachtung der Tatsache, dass er eigentlich der Vogeljäger war, oder ihn bei seiner Wacht mit einem Baumstamm verwechselnd, fühlte Arșag, dass nun nichts mehr zu machen war, er klopfte an das Küchenfenster und gab Großmutter zu verstehen, dass er den Pfarrer und die anderen Mitglieder der Kirchengemeinde holen gehe. Weil Großmutter Arșaluis eingesunken auf dem Stuhl saß und einen Zipfel ihres Taschentuchs vor den Augen hatte, wartete Arșag ihre Zustimmung nicht mehr ab und ging, die Vögel wie einen Vorhang zur Seite scheuchend, zum Tor.
    Sie traten in die Küche und setzten sich schweigend um den Tisch. Großmutter stellte einen Teller mit trockenem Gebäck in die Mitte und goss jedem eine Tasse Kaffee ein. Sie tranken wortlos. Der junge Priestermönch Zareh Baronian saß am Kopfende des Tisches, er machte das Kreuzeszeichen, das die anderen wiederholten, dann griffen sie nach dem Gebäck. Wenn sie es nicht im Kaffee einweichten, knabberten sie daran, wandten es im Mund hin und her, damit es aufweichte und sie es mit dem Zahnfleisch zerkleinern konnten. Sie tranken und bemühten sich dabei, keine Geräusche zu machen, was beim Kaffeetrinken für sie eine neue Herausforderung bedeutete. Ihre Blicke waren auf den Boden gesenkt, jeder fürchtete, der Blick eines anderen könnte ausgerechnet ihn auffordern, als Erster einzutreten. Es herrschte die Verlegenheit, welche die Leute dann befällt, wenn sie durch das Schicksal eines anderen mit ihrem eigenen Schicksal konfrontiert werden.
    Măgârdici Ceslov begriff, dass es ihm als dem Jüngsten in der Runde am leichtesten fallen müsse, sich hineinzuwagen, also nahm er sein Herz in die Hand und trat ein. Schwarzes Licht hüllte ihn ein, und die Tür schloss sich hinter ihm. Die anderen reckten die Hälse und warteten.
    Er glaubt, er befinde sich in Seferians Gruft, sagte Măgârdici Ceslov und setzte sich.
    Vielleicht hatte sich die Welt, die sie gekannt hatten, bis auf die Größe von
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