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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns
Autoren: Varujan Vosganian
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Boden aufreißend schoss das Pferdchen aus der Stelle, an der sie es eilig begraben hatten, raste um die Welt, erhob sich auf die Hinterbeine und wieherte, rief nach seinem Reiter, dessen Blut zu dem auf Sattel und Zaumzeug passte. Der Sprecher von Radio Liberty meldete zu Beginn der Sendung in armenischer Sprache, dass Misak Torlakian am Morgen des gleichen Tages in Montebello gestorben war. Er sollte in zwei Tagen auf dem Evergreen-Friedhof der Stadt beerdigt werden, und es würden zahlreiche Teilnehmer aus der großen armenischen Gemeinde Kaliforniens erwartet. Misak Torlakian, der Kampfgefährte von General Dro, sagten sie. Kein Wort, gewiss, über die Operation »Nemesis«. Und erst recht nichts über den Traum vom weißen Pferd, der nun in eine Holzkiste gesperrt wurde.
    Es war der Abend des 12. November 1968. Das genaue Datum hat zweifellos keine Bedeutung, das
Buch des Flüsterns
, wiewohl voller Zahlen, wie ein Geschichtsbuch, ist eigentlich an keine dieser Zahlen gebunden. Die wahre Geschichte, die sich lohnt, erzählt zu werden, ist die, die sich jederzeit, wenn es genügend Leute gäbe, sie zu erzählen, und genügend Zuhörer, die sie sich merkten, in eine Legende verwandeln könnte, mithin die am wenigsten genaue Geschichte. Ich habe die Zahlen nicht benutzt, weil ich etwa für unsere im Flüsterton erzählten Geschichten zusätzliche Einzelheiten benötigt hätte, sondern weil es die einzig mögliche Weise war, in der ich die Abfolge der Ereignisse einigermaßen klar darstellen konnte. Auch wenn die Geschichte zu jeder anderen Zeit und an jedem anderen Ort genauso gut betrachtet werden kann, ist es doch in ihr selbst wichtig zu wissen, wer wen geboren hat, wer wen beerbt, wer wen verdammt, und wer genau eine Person der Geschichte bleiben, also von wem auch nach seinem Tod noch erzählt werden kann. In dieser letzten Hinsicht ist das
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etwas ungewöhnlich, denn im Unterschied zu anderen Geschichtswerken ist der Tod hier nur ein Detail, und wichtiger als der Tod, mithin auch das Leben, ist das Gedächtnis.
    Und was den Fortgang der Ereignisse betrifft, wissen wir, dass mein Großvater Garabet Vosganian das Ende des Nachmittagsjournals von Radio Liberty nicht mehr abgewartet hat. Er stand auf, blieb einige Augenblicke, den Blick ins Leere gerichtet, aufrecht stehen, dann wandte er sich um und ging mit langsamen, unsicheren Schritten zur Tür. Eigentlich ja zuerst vom Radio weg, um sich von der Lärmquelle zu entfernen, und dann zur Tür, setzte einen Fuß vor den anderen, und seine Arme begleiteten seinen Gang mit einem schroffen Schlenkern. Er schritt übertrieben betont, und dies hätte selbst bei einem jungen Menschen ungelenk gewirkt, erst recht bei einem Alten. Er ging so, wie er gegangen wäre, wenn er uns die neuen Toten hätte vorführen wollen. Sahag folgte ihm mit dem plötzlich fröhlich erwachten und wie ein alter Affe herumtollenden Yusuf.
    Garabet mit seinem gemächlichen Gang und den leeren Augen erinnerte Sahag – und so hatte er auch Yusufs Fröhlichkeit verstanden – an die Alten, die sich in den Konvois zwischen Meskene und Deir-ez-Zor dahinschleppten, und er erschrak, nicht etwa vor dieser Vision, sondern vielmehr deshalb, weil es nach so langer Zeit jetzt wieder möglich geworden war, sie zu haben. Was ist los mit dir, Garbis?, fragte er ihn und räumte ihm den Weg frei, das heißt, er öffnete ihm die Tür und räumte ihm die Blumentöpfe und die Gartenwerkzeuge, die draußen liegengeblieben waren, aus dem Weg, denn so, wie er nun über sie hinwegsah, hätte er leicht darüber stolpern können. Er setzte sich auf die Bank unter dem Aprikosenbaum, und Sahag stopfte ihm die weichen Kissen zurecht und rannte davon, zwei Kaffees zubereiten: Den einen stellte er Großvater hin, und den anderen nahm er selbst, schlürfte lange und schnalzte laut, um ihm Appetit zu machen. Was ist los mit dir, Garbis?, fragte Sahag noch einmal, als er sah, dass auch sein Versuch, ihn durch den Kaffeeduft zur Besinnung zu bringen, schiefgegangen war. Als aber Großvater die Tasse ergriff und mit einem Schluck leerte, wollte Sahag ihn warnen, der Kaffee sei sehr heiß, aber Großvater schien das nicht zu spüren oder gar darunter zu leiden. Wie man an seiner abwesenden Haltung erkennen konnte, hatten sich seine Nerven aus den Fingerspitzen zurückgezogen und um das Herz herum verknäult. Und dann sprach Großvater seine letzten Worte aus, aber nicht in dem würdevollen Tonfall der letzten
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