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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns
Autoren: Varujan Vosganian
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trotzdem nicht entgangen waren. Der Menschen, die den Willen eines Gottes wahrgenommen hatten, der sich im zwanzigsten Jahrhundert als unaufmerksamer denn gewöhnlich erwiesen hatte. Und so war nach mehr als einem halben Jahrhundert Armen Garos Liste erschöpft. Es ist vorbei, flüsterte Großvater der Göttin Nemesis zu. Diese tanzte mit funkelnden Augen, barfuß und Ringe mit Glöckchen an den Waden; es ist vorbei, flüsterte er, und deshalb vielleicht, und wegen der Trommeln kann es sein, dass sie ihn nicht gehört hat.
    Großmutter schickte nach Doktor Zilbermann, mittlerweile zu Argintaru geworden. Er untersuchte Großvater, horchte sein Herz ab, maß seinen Blutdruck, ließ seine Hand lange auf seiner feuchten Stirn liegen und fand nichts, verschrieb nur ein paar Medikamente, die den Organismus stärken sollten. Dann ließ er sich von Onkel Sahag bis ans Tor begleiten, schaute verwundert auf die Vögel und räsonierte mit lauter Stimme, dass es wahrscheinlich schneien werde, nahm kein Geld für die Untersuchung, was schon ein besorgniserregendes Zeichen war, und sagte noch einmal, diesmal unter Männern, dass er keinerlei Krankheit habe feststellen können, aber was ihn sehr viel mehr beunruhige, sei die Klage. Es ist eine neue Krankheit, sagte er, ich bin ihr auch bei unseren alten Juden begegnet, die aus den Lagern zurückgekehrt sind; die Bücher benennen sie nicht und kennen auch kein Heilmittel dagegen.
    Großvater Garabet lag etwa zwei Wochen danieder. Er lehnte das Essen ab und trank nur Tee. Sie saßen reihum an seinem Bett und wischten ihm die Stirn ab. Der Schweiß war jedoch sofort wieder da, er hatte zwar kein Fieber, aber seine Stirn überzog sich mit Schweißtropfen, als hätte er welches. Sodass sein Körper, der nun keine Nahrung mehr erhielt, und Wasser nur hin und wieder, vermischt mit Medikamenten, die eher dazu angetan waren, diejenigen zu beruhigen, die sie ihm verabreichten, als dass sie bei ihm irgendeinen Effekt gehabt hätten, austrocknete, die Muskeln schwanden, verdünnten sich rings um die Knochen, als wären sie dicke Seile, die ihn zusammenbanden, die Haut über den Wangen fiel ein, die Wangenknochen traten spitz heraus, und seine Nase ragte einsam und krumm hervor, während seine Augen, selbst wenn sie halb geschlossen waren, in den fleischlos eingefallenen Höhlen kulleräugig zu starren schienen.
    Großvater begann immer mehr, Pfarrer Komitas zu ähneln. Sein Bart wuchs, und was anfangs stachlig und grau war, wurde allmählich durchscheinend und weich, hing ihm wie Algenbüschel an beiden Seiten des Gesichts herab. Wenn man ihm den Schweiß abwischte und seinen kahlen Schädel mit dem Handtuch bedeckte, erinnerte er an die Totenmaske von General Antranik. War er bis unters Kinn zugedeckt oder öffnete er die Augen, sodass sie trocken und unnatürlich die Blässe der Wangen überstrahlten, veränderte sich das Gesicht wieder auf andere Weise. Bis er bei seinem eigenen Tod angelangt war, ging er durch eine ganze Reihe von Toden, die ihm vorausgegangen waren. Jeder Fötus im Bauch einer Mutter ähnelt der Reihe nach etwas anderem, einem Grünen Augentier, dann einer Larve, einem Fisch, einem Fleischflosser, der schon an Land zu gehen lernt, Gestalten, die man leicht für deformiert hätte halten können, wenn man ihren Sinn nicht begriffen hätte. Die Ontogenese wiederholt die Philogenese, sollten wir einige Jahre später in der Schule lernen. Bevor das Kind geboren und damit es selbst wird, trägt es das Antlitz der anderen Kinder, die vor ihm waren. Still in seinem Bett liegend, die Arme neben dem Körper, die Augen halb geschlossen und beinahe unbewegt, aber sich in den Bäuchen des Todes windend, um und um drehend, wiederholte mein Großvater die Gestalten der Toten vor ihm. Bis der Tod ihn gebären würde, ausreichend alt, die Wangen trocken und eingefallen, sich selbst wie eine Mumie in weiche und dünne Muskeln einwickelnd, die Stirn kalt und klar; dann wird er wieder er selbst sein, ein Kind des Todes.
    Vater beschloss, dass für uns nun der Augenblick gekommen war, von Großvater Abschied zu nehmen. Er nahm mich und meinen Bruder Melic an den Händen, küsste uns, ermutigte uns und schob uns in Großvaters Zimmer, nachdem Großmutter aufgeräumt und etwas Parfüm verspritzt hatte, das jedoch die Luft keinesfalls erfrischte, sondern eher noch stickiger werden ließ; auch hatte sie die Vorhänge so weit geöffnet, dass wir ihn sehen konnten. Ich schaute auf den Spiegel, den
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