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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns
Autoren: Varujan Vosganian
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wir nicht hatten fotografieren können, und einen Augenblick lang dachte ich, der Winkel, in dem sich nun Großvaters Augen zum Spiegel befanden, sei genau der, den wir seinerzeit so lange gesucht hatten.
    Für mich war das ein neuer Geruch, die Luft rings um eine Person, die diese eher ausstieß, als dass sie sie eingeatmet hätte. Wir setzten uns auf die vorher dafür vorbereiteten Stühlchen, man sagte uns, wir sollten schweigen, und das taten wir auch, saßen kindlich da, die Waden aneinandergepresst und die Hände auf den Knien. Großvater Garabet wandte uns langsam den Kopf zu und öffnete die Augen. Diesmal waren sie schwarz, seine Pupillen hatten sich geweitet, versuchten, so viel wie möglich zu sehen, aber unter geringem Lichteinsatz. Dies ist meine letzte Erinnerung an meinen lebenden Großvater, obwohl mir nicht ganz klar ist, von welcher Seite der Zollstation jener Blick ausgegangen war. Aber es war etwas, von dem er ganz bestimmt gewünscht hatte, es möge sich ereignen, denn – so hatte es der lebendige Großvater Garabet einst gesagt – jedes Volk definiert sich durch etwas, das weder vom Namen herrührt noch von Orten, weder von den Toten noch von Festungen, das einzig und allein ihm angehört, und die Armenier kann man am besten durch ihre Augen verstehen, groß sind sie und länglich, mit geschwungenen Wimpern und buschigen Brauen, verschattet und melancholisch, selbst dann, wenn sie, selten einmal, heller gefärbt sind. Nachdem er mir seinen Blick anvertraut hatte, sprach Großvater Garabet unerwartet.
    Er hatte eine neue Stimme, die aus seinem tiefsten Inneren kam, aber ich hörte sie, als hätte er mir direkt ins Ohr gesprochen. Er bewegte seine Lippen sehr langsam, die Worte waren gehaucht, keinesfalls gesprochen, und deshalb hörte man sie vibrieren. Was er mir sagte, schien einen ganz bestimmten Sinn zu haben, ich glaubte, ihn zu verstehen, und bemühte mich, aufmerksam zu sein und keinen Laut zu überhören. Eigentlich verstand ich kein Jota. Ich schaute meinen Bruder an, der verlegen den Blick gesenkt hatte. Dann zu Vater, der hinter uns stand, meinen Blick als einen Hilferuf auffasste und mir sanft mit der Hand über den Kopf streichelte. Ich aber hätte gerne erfahren, ob sie etwas verstanden, während sie nur das taten, was sie tun mussten, nur ich mühte mich, dort etwas zu verstehen, wo die Dinge für alle Welt klar waren. Großvater sprach mit jener ungewöhnlichen Stimme, die aus seinem gesamten Wesen zu entspringen schien, aus dem Bauch, sie rasselte, als käme sie aus dem Rachen, war nasal und hatte Verknappungen, die der langsam gewordenen Zunge zuzurechnen waren. Die Worte aber verstand ich nicht. Sie waren beruhigend, in einem Ton ausgesprochen, dem jede Traurigkeit abging, sie enthüllten mir etwas, von dem er sich ganz gewiss wünschte, ich allein würde es verstehen, aber auf eine solche Weise, dass ich sie nicht würde weitergeben können, deshalb fixierte er mich mit jenem verfinsterten Blick. Sehr viel später, als ich mich traute, meinen Vater Bergi Vosganian zu fragen, was Großvater damals gesagt hatte, gestand er mir, dass auch er kaum etwas verstanden hatte. Es seien vermischte Wörter gewesen, aus allen Sprachen, die Großvater gesprochen hatte, vor allem aus denen seiner Kindheit, dem Türkischen, Russischen, Arabischen und Persischen, verborgene Erinnerungen, unzerkaute Bissen, unterdrückte Ängste, Worte, die er am Lager anderer Sterbender gehört hatte und mir nun wiederholt habe, Dinge, die ich wissen hätte müssen oder zumindest erahnen, denn allmählich mussten sie aufgedeckt werden. Gerne hätte ich mit meinem Kinderblick woandershin geschaut, es war mehr, als ich verstehen konnte, aber ich konnte meinen Blick nicht von seinen Augen lösen. Großvater hat mir etwas anvertraut, und ich habe alles angenommen, bis er ebenso unerwartet schwieg, wie er zu sprechen begonnen hatte.
    Als ich groß genug geworden war und nicht bloß in Freuden und Ängsten zu denken begann, sondern auch in Worten, habe ich überrascht festgestellt, dass die Stimme, die mir nunmehr in meinen Worten in den Ohren klang, jene unvertraute Stimme meines Großvaters war, aus Vibrationen gebildet, wie Arșag, der Glöckner, allseits bedrängt von den Vögeln, die immer noch herbeigeflogen kamen, sich die Sprache in einer idealen Welt vorgestellt hätte. Die Stimme meines Großvaters war zu meiner inneren Stimme geworden.
    Das Salböl wird alle sieben Jahre erneuert, das neue, aus den
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