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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern
Autoren: B Meinhardt
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lang wie jedes andere Verbleichen und Versterben, also wann im Herbst war es?
    Nicht mehr ganz an seinem Anfang, da der Wind so lautlos über die Flüsse und Seen gegangen war, daß sie wie gekämmt gelegen hatten, alle sonstigen Bewegungen waren eingestellt gewesen außer dem belanglosen Taumeln der letzten Mücken knapp über der Wasseroberfläche und dem geschwinden Dahingleiten einiger Seeschlangen, die jener feinen Struktur, durch die sie schnitten, noch ein paar schmale vibrierende Linien hinzufügten, aus dem Schwanz ihnen laufende Nähte.
    Aber noch weniger an seinem Ende, denn bislang klirrten ja die Gräser noch nicht metallisch ausgangs der Nacht, bislang hingen die Quitten noch nicht gelber, größer und höher als die Sonne, bislang war aus aufgeschichtetem Sand noch kein Beton geworden, bislang hatten die Rotbuchen noch nicht einmal begonnen mit ihrem betörenden Verglühen und Verglimmen.
    Wollüstig brannten nur schon die Hausgiebel, dort rankender wilder Wein tropfte rot auf die Erde, Blatt für Blatt, außer einem, das plötzlich in der Luft stehenblieb, das erzitterte und nicht sank. Keiner, der das unverschämte Glück hatte, es da zu entdecken, wollte sich gleich die Spinne und ihr Netz hinzudenken, und das funktionierte, das reichte für ein kurzzeitiges aufrichtiges Staunen. Die Spinne aber wurde in den ersten kalten Nächten gelähmt, böiger werdende Stürme stopften Stöße von Laub in die Dachrinnen, und kaum daß es dort zu lagern begann, kam Regen und entfärbte und verklumpte es. Da stellten, wie jedes Jahr um diese Zeit, Männer ihre langen dunklen Holzleitern an, um die Rinnen von dem Moderzeugs zu befreien. Manchem hielt die Frau unten mit beiden Händen das Holz, mancher bedurfte ihrer nicht, und mancher hatte keine mehr; der überprüfte vorab besonders penibel den festen Stand der Leiter und stieg erst dann, und quälend langsam, Stufe für Stufe hoch.
    Aber es nützte doch alles nichts. Wenn ich jetzt herunterfalle …, dachte Willy um so furchtsamer, je weiter er kletterte. Er begann zu zittern und hörte plötzlich sein geflicktes Herz an ganz falscher Stelle pochen, an ganz falschen Stellen, denn tief in jedem Ohr schien jeweils eines zu stecken und zu schlagen, ein synchrones Hämmergeräusch, das Willys Schläfen, die Wände seines bedrohlichen einzigen Gedankens, jedesmal für den Bruchteil einer Sekunde zu beulen schien. Schmerzen? Schmerzen traten immer danach auf beziehungsweise dazwischen, in den Augenblicken, da sich die Schläfen blitzartig wieder zusammenzogen.
    Im vergangenen Jahr hatte er noch einen Zinkeimer mit sich geführt und oben an die Leiter gehängt, um das Laub hineinzutun; aber im vergangenen Jahr war ja, wie er so auf der Leiter gestanden hatte, auch noch das Rauschen der hinter seinem Rücken fließenden Schorba in seine Gehörgänge gedrungen. Jetzt wagte er, trotz freier Hände, nicht einmal, so hoch zu klettern, daß er auf die Rinne hätte schauen können. Statt dessen langte er vorsichtig mit einem Arm nach oben, grapschte nach den suppenden Blätterschichten und ließ sie neben sich herunterfallen. Dies wiederholte er so lange, bis er den ihm erreichbaren Teil der Rinne gesäubert glaubte. Beim Abstieg dann bewegte er sich, als klebte er mit Händen und Füßen an den Sprossen fest und als kostete es ihn die größte Mühe, sich von ihnen loszureißen; er verrückte, nachdem er endlich wieder den Erdboden unter seinen Sohlen spürte, die Leiter anderthalb Meter, machte sich erneut ängstlich und schwerfällig auf …
    Lange dauerte das alles, schon war es Zeit für seinen mittäglichen Gang in den Bunker geworden. Er trat ihn nicht an, er hatte sich, weniger was seine Muskeln betraf als seinen Kopf und sein Herz, doch zu stark verausgabt und fühlte, es sei besser, sich erstmal hinzulegen, ja. Was machte es auch schon, wenn er einmal, ein einziges Mal eine Messung ausließ? Sie würde letztlich gar nicht fehlen. Er würde am Abend im Bunker einfach eine Zahl nachtragen, die übliche, sich regelmäßig wiederholende, kolonnenbildende Zahl, auf die man beim Zivilschutz, wenn er dort seine Listen abgegeben hatte, nur einen flüchtigen Blick warf, so vertraut und so vollkommen erwartbar war sie auch den berufsmäßigen Kontrolleuren. Deren gleichmütige, gelangweilte Gesichter, Willy sah sie mit schon geschlossenen Augen, dann schlief er ein.
    Als er wieder aufwachte, dämmerte es, die Baumstämme und die dicken Zweige unten am Fluß ragten schon
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