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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten
Autoren: Mika Bechtheim
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verwickelte.
    Ganz plötzlich ließen Hinners Hände von mir ab, und er hob sie hoch über seinen Kopf. Auch Konrad hob die Hände.
    »Das nennt man Pattsituation.« Mein Vater hielt Hinner mit einem von Eddies Gewehren in Schach.
    »Nein«, sagte Felix Kortner. »Das nennt man Gewinnersituation. Also die Herren. Da drüben steht mein Dienstwagen. Neuestes Modell mit Sitzheizung, Klimaanlage, Allradantrieb. Ich hasse den Wagen. Aber nun ja. Ich werde Ihnen jetzt Handschellen anlegen, und dann werden Sie schön brav in den Wagen einsteigen.«
    »Der Schlüssel«, sagte ich. »Ich will den Autoschlüssel und meinen Sohn.«
    Hinner lachte. »Max ist nicht im Van, auch wenn wir’s gerade behauptet haben. Oder hältst du uns für so dämlich?«
    »Nein«, sagte da eine Stimme hinter uns, und ich drehte mich ruckartig um.
    Es war Leo. Mein Bruder und mein großer Held.
    In der Hand hielt er ein Gewehr, wohl auch aus dem Gewehrschrank meiner Mutter.
    »Du wolltest mich?«, fragte er Hinner. »Da bin ich.«
    Ich wollte auf ihn zustürzen, ihn umarmen, an mich drücken und festhalten.
    »Siggi Meier liegt bei uns im Haus unten im Keller, Hinner. Mit einem Kabel an die Heizung gefesselt. Meinem Neffen Max geht es hervorragend. Er schläft mit seinem Freund in meinem alten Bett.«
    Er drehte den Kopf zu mir und lächelte mich an.
    Das Adrenalin stürzte durch meinen Körper wie eine Lawine von einem Achttausender. Der Himmel begann zu kreisen, die Hecke tanzte Cancan. Mein Bewusstsein tanzte rein und tanzte raus aus meinem Körper. Die Männer verschwammen vor meinen Augen zu Klumpen.
    Eine Hand griff nach meinem Unterarm.
    Ich drehte mich weg und erbrach mich in die Büsche.

53
    Leo stützte mich, als ich aus den Zweigen kroch, dann zog er mich an sich. Gegenüber schlugen Autotüren zu.
    »Ich muss zu Max«, sagte ich und riss mich aus der Umarmung. Ich drehte mich um. Eine Hand hielt mich fest.
    »Er schläft. Er ist zu Hause, und Cornelius ist bei ihm.«
    »Cornelius ist in Hamburg«, sagte ich und begann zu laufen.
    »Nein«, sagte Leo und lief neben mir her. »Er und Christopher sind hier. Sie waren die ganze Zeit hier. Cornelius ist nicht gefahren.«
    Ich blieb stehen und fragte, wieso. Kortners Wagen hielt neben mir. Mein Vater ließ das Fenster herunter. »Nehmt meinen Wagen, Kinder. Er steht dahinten. Der Schlüssel steckt.« Mein Vater lachte. »Kinder«, wiederholte er, als könnte er nicht genug von dem Wort bekommen.
    Wir rannten zu der Stelle, auf die mein Vater gezeigt hatte.
    Leo fuhr. In mir wirbelten Hunderte Fragen durcheinander. Ich wusste nicht, welche ich zuerst stellen sollte.
    »Erklär es mir«, sagte ich.
    »Was?«
    »Alles.«
    »Von Anfang an, was? Und wie immer ganz genau?«
    Ich nickte und legte meine Hand auf seinen Oberschenkel. Er drückte sie kurz. Er lebte, und er saß neben mir. Ich zog die Hand weg.
    »Der Anfang?« Er dachte nach. »Wir hatten einen heißen Mai damals, und ich fuhr manchmal nach der Arbeit an das alte Wehr zum Schwimmen.«
    Ich betrachtete sein Profil, das sich im Schein der Straßenlampen mal hell und klar, mal wie ein Scherenschnitt ausnahm. Ich konnte nicht genug von seinem Profil bekommen.
    »Am Wehr traf ich Lauren. Sie ging manchmal hin und lernte oder las. Erst unterhielten wir uns nur, und dann verliebten wir uns, und sie wurde schwanger.«
    »Von dir?«
    »Ja.«
    Ich zog die Brauen kurz hoch. Er konnte es nicht sehen.
    »Irgendwann musste sie es zu Hause erzählen. Sie hatte eine Heidenangst. Ich wollte mit, aber das wollte sie auf keinen Fall. Und dann kam sie nicht mehr, und am zweiten Tag auch nicht. Ich fuhr hin. Paul Heinecken warf mich aus dem Haus. Er war außer sich.«
    »Kann ich mir vorstellen«, sagte ich.
    »Ja«, sagte er, »und dann begann es wieder von vorn.«
    Er schwieg und schüttelte den Kopf.
    »Hinner«, sagte er. »Es war Hinner, nicht Paul. Hinner hat sie das erste Mal missbraucht, als er 17 und sie zwölf war. Kannst du dir das vorstellen?«
    Eine Gänsehaut kroch über meinen Körper. Mir kamen die Tränen. Hätten wir sie doch nur nicht ausgegrenzt. Hätten wir sie doch mitspielen lassen. Es war vor unseren Augen geschehen. Nicht sichtbar, sondern hinter heruntergelassenen Jalousien. In der Vertrautheit und Geborgenheit des Kinderzimmers, wo Teddys oder Puppen auf einem Bett mit hellem Überwurf saßen.
    Leo sprach weiter. Hinner begann Lauren wieder zu missbrauchen, nachdem sie ihre Schwangerschaft gestanden hatte. Und sie musste Paul
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