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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn
Autoren: Colm Tóibín
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früh den Zug nehmen?« sagte ihre Mutter.
    »Ja, den Zug nach Rosslare und dann nach Cork.«
    »Ich geh jetzt und rede mit Joe Dempsey, dass er dich morgen früh abholt. Ich werd ihn bitten, um acht hier zu sein, so dass durechtzeitig zum Zug kommst.« Sie schwieg kurz, und Eilis sah, dass sie auf einmal sehr erschöpft wirkte. »Und dann gehe ich ins Bett, denn ich bin müde, und deswegen sehen wir uns morgen früh nicht mehr. Deswegen werde ich mich jetzt verabschieden.«
    »Es ist noch früh«, sagte Eilis.
    »Ich würde mich lieber jetzt und auch nur einmal verabschieden.« Ihre Stimme hatte einen entschlossenen Klang angenommen.
    Ihre Mutter kam auf sie zu, und als Eilis aufstand, umarmte sie sie.
    »Eily, du darfst nicht weinen. Wenn du dich entschieden hast, jemand zu heiraten, dann muss er sehr nett und gut und etwas Besonderes sein. Und das alles ist er doch wohl, oder?«
    »Ja, Mama.«
    »Na, dann seid ihr ja ein gutes Paar, denn das bist du alles auch. Und du wirst mir fehlen. Aber ihm fehlst du bestimmt auch.«
    Ihre Mutter entfernte sich und blieb dann in der Tür stehen. Eilis erwartete, dass sie noch etwas sagen würde, doch ihre Mutter sah sie bloß schweigend an.
    »Und du schreibst mir über ihn, wenn du wieder zurück bist?« fragte sie schließlich. »Erzählst du mir dann alles?«
    »Ich schreib dir über ihn, sobald ich wieder da bin«, sagte Eilis.
    »Wenn ich weiterrede, fange ich nur an zu weinen. Also geh ich jetzt rüber zu Dempsey’s und bestell den Wagen für dich«, sagte ihre Mutter und verließ den Raum mit langsamem und würdevollem, gemessenem Schritt.
    Eilis saß regungslos in der Küche. Sie fragte sich, ob ihre Mutter schon die ganze Zeit gewusst hatte, dass sie einen Freund hatte. Von den Briefen, die Eilis Rose geschrieben hatte, war nie die Rede gewesen, und doch mussten sie irgendwo aufgetaucht sein. Ihre Mutter hatte Rose’ Sachen doch so gründlich durchgesehen. Sie fragte sich, ob ihre Mutter sich schon längst überlegt hatte, was sie sagen würde, falls Eilis ihre Rückkehr nach Amerikaankündigte, weil sie einen Freund hatte. Sie wünschte fast, ihre Mutter wäre zornig auf sie gewesen oder hätte sich zumindest enttäuscht gezeigt. Ihre Reaktion hatte bewirkt, dass Eilis im Augenblick vor nichts mehr graute, als den Abend damit zu verbringen, einsam und stumm ihre Koffer zu packen, während ihre Mutter von ihrem Schlafzimmer aus zuhörte.
    Anfangs spielte sie mit dem Gedanken, zu Jim Farrell zu gehen, aber dann fiel ihr ein, dass er jetzt wahrscheinlich hinter dem Tresen stand. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie ins Pub ginge. Wenn sie versuchen würde, mit ihm zu reden, oder warten würde, bis er seinen Vater oder seine Mutter ausfindig gemacht hatte, die ihn in der Bar vertreten würden, solange sie mit ihm nach draußen ging und ihm eröffnete, dass sie wegfuhr. Sie konnte sich vorstellen, dass er verletzt wäre, wusste aber nicht, was genau er tun würde. Würde er sagen, er würde warten, bis sie geschieden wäre, oder würde er eine Erklärung von ihr verlangen, warum sie ihm etwas vorgemacht hatte? Mit ihm zu sprechen, dachte sie, würde überhaupt nichts nützen.
    Sie spielte mit dem Gedanken, ihm zu schreiben, sie müsse zurück, und ihm den Brief durch den Türschlitz zu stecken, damit er ihn entweder in dieser Nacht oder am folgenden Morgen fand. Aber wenn er ihn diese Nacht fand, würde er sofort zu ihr kommen. Sie beschloss, den Brief lieber am nächsten Morgen auf dem Weg zum Bahnhof einzuwerfen. Sie würde einfach schreiben, sie müsse zurück und es tue ihr leid, doch sie würde ihm schreiben, sobald sie wieder in Brooklyn wäre, und ihm ihre Gründe erklären.
    Sie hörte ihre Mutter zurückkommen und langsam die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufsteigen, und sie überlegte, ob sie ihr folgen und sie bitten sollte, bei ihr zu bleiben, während sie packte, und mit ihr zu reden. Aber als ihre Mutter erklärt hatte, sie wolle sich nur einmal verabschieden, hatte ihre Stimme einen so stahlharten und unerbittlichen Unterton gehabt, dass Eilis wusste, eswäre jetzt sinnlos gewesen, sie um ihren Segen zu bitten oder was auch immer es war, was sie sich von ihr wünschte, bevor sie das Haus verließ.
    In ihrem Zimmer schrieb sie den Brief an Jim Farrell und legte ihn dann beiseite; sie zog ihren Koffer unter dem Bett hervor, legte ihn aufs Bett und begann, ihn mit ihren Kleidungsstücken zu füllen. Sie konnte sich vorstellen, wie ihre Mutter
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