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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn
Autoren: Colm Tóibín
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sich, und in mancherlei Hinsicht auch klug und intelligent, aber er war konservativ. Er legte Wert auf seine gesellschaftliche Stellung, und es bedeutete ihm etwas, dass er ein respektables Pub führte und aus einer respektablen Familie stammte. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie etwas Ungewöhnliches getan und würde es bestimmt auch nie tun. Das Bild, das er von sich selbst und der Welt hatte, schloss die Möglichkeit nicht ein, dass er seine Zeit mit einer verheirateten Frau verbrachte – ja schlimmer noch, mit einer Frau, die weder ihm noch sonst jemandem erzählt hatte, dass sie verheiratet war.
    Sie betrachtete sein freundliches Gesicht im weichen Licht des Hotelrestaurants und beschloss, ihm vorerst nichts zu sagen. Sie fuhren nach Enniscorthy. Als sie zu Hause die Briefe Tonys betrachtete, die sie, zum Teil noch ungeöffnet, in ihrer Schlafzimmerkommode verwahrte, begriff sie, dass es nie einen geeigneten Zeitpunkt geben würde, es ihm zu sagen. Sie konnte es ihm nicht sagen; es war nicht auszudenken, wie er auf ihre Täuschung reagieren würde. Sie würde zurückfahren müssen.
    Seit einiger Zeit schon schob sie den Brief auf, den sie Father Flood oder Miss Fortini oder Mrs. Kehoe über ihre verspätete Rückkehr schreiben wollte. Sie würde ihnen, beschloss sie, an einem der nächsten Tage schreiben. Sie würde versuchen, das, was sie tun musste, nicht noch weiter hinausschieben. Aber die Aussicht, ihrer Mutter das Datum ihrer Abreise mitteilen und Jim Farrell Lebwohl sagen zu müssen, erfüllte sie noch immer mit Angst, so sehr, dass sie noch einmal beide Gedanken aus ihremKopf verbannte. Sie würde sich bald damit beschäftigen, dachte sie, aber jetzt noch nicht.

    Am Tag vor der Feier im Golfklub war sie am frühen Nachmittag allein zum Friedhof gegangen, um noch einmal Rose’ Grab zu besuchen. Es hatte genieselt, und sie hatte einen Regenschirm dabei. Am Friedhof angekommen, bemerkte sie, dass ein ziemlich kühler Wind wehte, obwohl es Anfang Juli war. In diesem grauen böigen Licht sah der Friedhof, auf dem Rose lag, kahl und trostlos aus – keine Bäume, auch sonst kaum Pflanzen, nur Reihen von Grabsteinen und Wegen und darunter das Schweigen der Toten. Eilis sah auf Grabsteinen Namen, die sie wiedererkannte, von Eltern oder Großeltern von Schulfreundinnen, Männern und Frauen, an die sie sich gut erinnerte und die jetzt alle dahingegangen waren, hier am Stadtrand zur letzten Ruhe gebettet. Vorerst lebten die meisten von ihnen noch im Gedächtnis der Lebenden, aber es war eine Erinnerung, die mit jeder verstreichenden Jahreszeit langsam etwas mehr verblasste.
    Sie stand an Rose’ Grab und versuchte, zu beten oder irgend etwas zu flüstern. Sie war traurig, und vielleicht, dachte sie, genügte das – hierherzukommen und Rose’ Geist spüren zu lassen, wie sehr sie vermisst wurde. Aber sie konnte weder weinen noch irgend etwas sagen. Sie blieb so lange sie konnte am Grab stehen und wandte sich dann ab, und den brennendsten Schmerz verspürte sie eigentlich erst, als sie den Friedhof verließ und sich Richtung Summerhill und Presentation Convent aufmachte.
    Als sie an der Ecke der Main Street ankam, beschloss sie, den Weg durch die Stadt zu nehmen, statt über die Back Road zu gehen. Gesichter zu sehen, Passanten, offene Geschäfte, dachte sie, würde sie vielleicht von der nagenden Traurigkeit ablenken, von den Schuldgefühlen, die sie Rose gegenüber beinahe empfand wegen ihrer Unfähigkeit, so wie es sich gehörte mit ihr zu reden oder für sie zu beten.
    Sie ging an der Kathedrale auf der gegenüberliegenden Straßenseite vorbei und war auf dem Weg zum Market Square, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief. Als sie sich umschaute, sah sie, dass Mary, das Mädchen, das für Miss Kelly arbeitete, nach ihr rief und sie zu sich auf die andere Straßenseite winkte.
    »Ist was passiert?« fragte Eilis.
    »Miss Kelly will Sie sprechen«, sagte Mary. Sie war fast außer Atem und sah verängstigt aus. »Sie sagt, ich soll Sie unbedingt jetzt mitbringen.«
    »Jetzt?« fragte Eilis lachend.
    »Jetzt«, wiederholte Mary.
    Miss Kelly wartete an der Tür.
    »Mary«, sagte sie, »wir gehen kurz nach oben, und wenn jemand nach mir fragt, dann sagst du, dass ich runterkomme, sobald ich fertig bin.«
    »Ja, Miss.«
    Miss Kelly öffnete die Tür zu dem Teil des Gebäudes, in dem sie wohnte, und führte Eilis hinein. Nachdem Eilis die Tür hinter sich geschlossen hatte, begleitete Miss Kelly sie eine
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