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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn
Autoren: Colm Tóibín
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Wie schwierig es wohl war, sich scheiden zu lassen? Konnte sie Jim gestehen, was sie erst vor so kurzer Zeit in Brooklyn getan hatte? Die einzigen geschiedenen Leute, von denen man in der Stadt je gehört hatte, waren Elizabeth Taylor und vielleicht noch ein paar andere Filmstars. Möglicherweise konnte sie Jim erklären, wie es zu ihrer Heirat gekommen war, aber er hatte sein Leben lang nur in ihrer kleinen Stadt gewohnt. Seine Unschuld und seine Höflichkeit, Eigenschaften, die den Umgang mit ihm so angenehm machten, würden sich, dachte sie, tatsächlich als Hindernis erweisen, besonders wenn etwas so Unerhörtes und Indiskutables, etwas, was so weit jenseits seines Horizonts lag wie Scheidung, zur Sprache kommen sollte. Am besten, dachte sie, sollte sie sich das Ganze aus dem Kopf schlagen, aber es war schwer, jetzt, während die Zeremonie ihren Fortgang nahm, nicht davon zu träumen, sie selbst stünde am Altar, und ihre Brüder wären für die Hochzeit heimgekommen, und ihre Mutter wüsste, dass Eilis in einem schönen Haus nur ein paar Straßen von ihr entfernt wohnen würde.
    Als sie vom Empfang der Kommunion zurückkam, versuchte Eilis zu beten und beantwortete sich tatsächlich selbst die Frage, die sie in ihren Gebeten hatte stellen wollen. Die Antwort lautete, dass es keine Antwort gab, dass nichts, was sie tun konnte, richtig gewesen wäre. Sie stellte sich Tony und Jim vor, wie sie voreinander standen oder sich zum erstenmal sahen, beide lächelnd, herzlich, freundlich, gelassen, Jim weniger lebhaft als Tony, weniger witzig, weniger neugierig, dafür selbständiger und sich seines Platzes in der Welt gewisser. Und sie dachte an ihre Mutter, die jetzt in der Kirche neben ihr saß und deren Verzweiflung und Erschütterung über Rose’ Tod durch Eilis’ Rückkehr inzwischen einwenig gemildert worden waren. Und sie sah sie alle drei – Tony, Jim, ihre Mutter – als Gestalten, denen sie nur schaden konnte, als unschuldige, von Licht und Klarheit umgebene Menschen, um die sie selbst, dunkel, unsicher, kreiste.
    Sie hätte in dem Moment, als Nancy und George gemeinsam den Mittelgang entlangschritten, alles dafür gegeben, wenn sie sich der Seite der Anmut, Gewissheit und Unschuld hätte anschließen können; dann hätte sie gewusst, dass sie ihr Leben beginnen könnte, ohne das Gefühl haben zu müssen, etwas Törichtes und Verletzendes getan zu haben. Gleichgültig, wofür sie sich entschied, würde es unmöglich sein, den Folgen dessen zu entgehen, was sie getan hatte oder möglicherweise noch tun würde. Während sie zusammen mit Jim und ihrer Mutter zum Ausgang ging und sich draußen vor der Kirche, wo es inzwischen aufgeklart hatte, den Gratulanten anschloss, war sie auf einmal sicher, dass sie Tony nicht mehr liebte. Er schien Teil eines Traumes zu sein, aus dem sie vor einiger Zeit ziemlich abrupt aufgewacht war, und in diesem Wachzustand besaß seine einst so konkrete Gegenwart keinerlei Substanz oder Form mehr; sie war lediglich ein Schatten am Rand jeden Augenblicks bei Tag und bei Nacht.
    Während sie sich für den Photographen vor der Kathedrale aufstellten, kam die Sonne endgültig heraus, und viele Neugierige kamen näher, um der Braut und dem Bräutigam dabei zuzusehen, wie sie sich anschickten, in einem mit Bändern geschmückten großen gemieteten Wagen nach Wexford zu fahren.

    Beim Hochzeitsessen saß Eilis zwischen Jim Farrell und einem Bruder von George, der wegen der Hochzeit aus England angereist war. Ihre Mutter beobachtete sie liebevoll und aufmerksam. Eilis fand es fast komisch, wie ihre Mutter jedesmal, wenn sie sich einen Bissen in den Mund steckte, herübersah, um sich zu vergewissern, dass Eilis noch da war und Jim nach wie vor an ihrer rechten Seite saß und sie beide sich gut zu amüsieren schienen.George Sheridans Mutter sah wie eine alternde Herzogin aus, der nichts als ein großer Hut, etwas alter Schmuck und ihre unermessliche Würde geblieben waren.
    Später, nach den Tischreden, als Photos vom Brautpaar, dann von der Braut und deren Familie sowie vom Bräutigam und dessen Familie aufgenommen wurden, kam Eilis’ Mutter herüber und flüsterte ihr zu, jemand werde sie und die beiden O’Briens wieder nach Enniscorthy mitnehmen. Der Ton ihrer Mutter klang eine Spur zu erfreut und verschwörerisch. Eilis begriff, dass Jim Farrell annehmen würde, ihre Mutter habe das so eingefädelt, und dass sie nichts unternehmen konnte, um ihm klarzumachen, dass sie selbst nichts damit
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