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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn
Autoren: Colm Tóibín
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erwarten würde, zu verdrängen.
    Manchmal durchfuhr es sie wie eine eindringliche Mahnung, aber die meiste Zeit über dachte sie überhaupt nicht daran. Es kostete sie jetzt einen regelrechten Willensakt, sich daran zu erinnern, dass sie wirklich mit Tony verheiratet war, dass sie sich bald wieder der glühenden Hitze Brooklyns und dem täglichen Einerlei im Bartocci’s und ihrem Zimmer bei Mrs. Kehoe würde stellen müssen. Sie würde sich einem Leben stellen, das ihr jetzt wie eine Strafe vorkam, inmitten von fremden Menschen, fremden Akzenten, fremden Straßen. Sie versuchte jetzt, sich Tony als eine liebende und tröstliche Präsenz vorzustellen, aber statt dessen sah sie jemanden, an den sie, ob sie wollte oder nicht, gebunden war, jemanden, der ihr wohl kaum gestatten würde, die Natur dieses Bandes und sein Bedürfnis, sie wieder bei sich zu haben, zu vergessen.

    Ein paar Tage vor der Hochzeit, nachdem Eilis einen halben Tag in der Verwaltung von Davis’s gearbeitet hatte, holte Jim Farrellsie dort ab. Sie aßen in Wexford zu Abend, gingen anschließend ins Kino, und auf dem Heimweg fragte er sie, wann sie beabsichtige, nach Brooklyn zurückzufahren. Die Schiffahrtsgesellschaft hatte ihr geschrieben, sie möge sich mit ihnen telefonisch in Verbindung setzen, um das Datum der Rückreise festzulegen, aber das hatte sie noch nicht getan.
    »Ich muss noch mit der Schiffahrtsgesellschaft telefonieren, aber wahrscheinlich fahre ich übernächste Woche.«
    »Man wird dich hier vermissen«, sagte er.
    »Es fällt mir überhaupt nicht leicht, meine Mutter hier allein zu lassen«, erwiderte sie.
    Er sagte erst wieder etwas, als sie durch Oylegate fuhren.
    »Meine Eltern ziehen bald aufs Land. Die Familie meiner Mutter kommt aus Glenbrien, ihre Tante hat ihr dort ein Haus vermacht, und sie renovieren es zur Zeit.«
    Eilis verriet nicht, dass ihre Mutter ihr das schon erzählt hatte. Jim brauchte nicht zu wissen, dass sie sich über seine Lebensumstände unterhielten.
    »Dann werde ich also allein in der Wohnung über dem Pub wohnen.«
    Sie wollte ihn schon scherzhaft fragen, ob er kochen konnte, begriff aber, dass es wie eine Suggestivfrage klingen könnte.
    »Du musst demnächst abends zum Essen zu uns kommen«, sagte er. »Meine Eltern würden dich sehr gern kennenlernen.«
    »Danke«, sagte sie.
    »Nach der Hochzeit.«

    Es wurde vereinbart, dass Jim Eilis, ihre Mutter, Annette O’Brien und deren jüngere Schwester Carmel nach der Zeremonie in der Kathedrale von Enniscorthy nach Wexford zum Hochzeitsempfang fahren würde. An dem Morgen waren sie in der Friary Street schon früh wach; Eilis Mutter kam mit einer Tasse Tee in ihr Zimmer und sagte, es sei bewölkt und hoffentlich werde es nicht regnen.Am vergangenen Abend hatten sie beide ihre Sachen schon für den Morgen sorgfältig zurechtgelegt. Eilis’ Kostüm, das sie in Dublin bei Arnott’s gekauft hatte, hatte geändert werden müssen, da der Rock und die Ärmel zu lang waren. Es war leuchtendrot, und sie würde dazu eine weiße Baumwollbluse mit Accessoires tragen, die sie aus Amerika mitgebracht hatte – Strümpfe, die ins Rötliche spielten, rote Schuhe, einen roten Hut und eine weiße Handtasche. Ihre Mutter würde ein graues Tweedkostüm tragen, das sie bei Switzer’s gekauft hatte. Sie war traurig, weil sie schlichte flache Schuhe tragen musste, da ihr die Füße im Augenblick weh taten und immer anschwollen, wenn es heiß war oder sie zu weit laufen musste. Sie würde eine graue Seidenbluse anziehen, die Rose gehört hatte, und zwar nicht nur, sagte sie, weil sie ihr gefiel, sondern weil Rose sie sehr gern gemocht hatte und es schön wäre, auf Nancys Hochzeit etwas zu tragen, was Rose sehr gern gemocht hatte.
    Sie hatten ausgemacht, dass Jim sie abholen und zur Kathedrale fahren würde, falls es regnete, andernfalls würden sie sich dort treffen. Eilis hatte Tony mehrere Briefe geschrieben und von ihm noch einen weiteren bekommen, in dem er berichtet hatte, er sei mit Maurice und Laurence nach Long Island gefahren, um sich das Grundstück anzuschauen und es in fünf Parzellen aufzuteilen. Es sei jetzt immer wahrscheinlicher, schrieb er, dass es sehr preisgünstig an die Wasser- und Stromversorgung angeschlossen werde. Eilis faltete diesen Brief zusammen und legte ihn in die Schublade zu Tonys übrigen Briefen und den Photographien von dem Tag am Strand von Cush, die sie von Nancy bekommen hatte. Sie betrachtete jetzt das Bild von sich und Jim –
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