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Brombeersommer: Roman (German Edition)

Brombeersommer: Roman (German Edition)

Titel: Brombeersommer: Roman (German Edition)
Autoren: Dörthe Binkert
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erinnerst du dich noch?«
    Ja, Viola. Das Mädchen mit den Storchenbeinen. Er erinnerte sich.

4
     
    Im Sommer 1945 war Viola bei den Osterlohs erschienen, um nach Marie zu fragen. Sie wusste, dass Marie gleich nach der Lehre im Modehaus Löwenstein   – im Jahr 1939 musste das etwa gewesen sein   – einen Mann kennengelernt und sich mit ihm verlobt hatte. Danach hatten sie sich aus den Augen verloren. Jetzt, da der Krieg vorbei war, dachte Viola wieder häufiger an Marie. Hatte sie geheiratet, war sie in der Stadt, lebte sie noch? Es war am einfachsten, nach den Eltern Osterloh zu suchen. Und sie machte sie ziemlich schnell ausfindig.
    Ja, Marie hatte noch geheiratet, erfuhr sie, eine Kriegshochzeit wie so viele, das gab eine kleine finanzielle Unterstützung. Ihr Mann hatte überlebt, einer seiner Kameraden hatte Ende 1945   Maries Eltern aufgesucht und berichtet, dass er wohl bald aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen werden. Die Nachricht vom Tod seiner Frau hatte er allerdings schon erhalten.
    »Und was machst du?«, hatte Maries Mutter gefragt.
    »Ich habe eine Schneiderlehre gemacht.« Viola blickte auf Selma Osterlohs Nähmaschine. »Im Moment arbeite ich bei der Bahnhofsmission in Dortmund. Es herrscht ein solch unbeschreibliches Chaos. Heimkehrende Soldaten, Flüchtlinge aus dem Osten, Evakuierte, die wieder heimwollen und entdecken, dass sie kein Zuhause mehrhaben. Alle sammeln sich bei uns. Daneben übersetze ich hier und da für die Engländer. Sprachenlernen fällt mir leicht, das macht mir richtig Spaß. Langsam verstehe ich immer mehr. Wir brauchen die Besatzer, wenn wir die Leute irgendwie versorgen wollen.«
    Maries Mutter drückte schweigend den Rücken durch.
    »Ich glaube, ich muss dann mal wieder«, sagte Viola unsicher.
    »Möchtest du etwas Stoff mitnehmen?«, fragte Maries Mutter und erhob sich, ohne Viola noch zum Bleiben aufzufordern. »Ich habe noch Fahnenstoff. Nimm ruhig was mit. Näh dir ein Kleid daraus.«

5
     
    Karl war nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft bei Tante Gertrud untergekommen, der Schwägerin seines Vaters. Seit Theo und Karl sich in Hermann Gronaus Wartezimmer wiederbegegnet waren, trafen sie sich regelmäßig. Sie versuchten, die zerrissenen Fäden wieder aufzunehmen.
    »Weißt du noch? ›Wir sind geboren, für Deutschland zu sterben‹«, sagte Theo.
    »›Nun lasst die Fahnen fliegen in das große Morgenrot, das uns zu neuen Siegen leuchtet oder brennt zum Tod‹«, antwortete Karl darauf. So ging das Lied der Hitlerjugend. Natürlich hatten sie an die Siege gedacht, für die sie sterben wollten, und nicht an ein Leben in der Niederlage. Aber darüber sprachen sie jetzt nicht.
    »Kannst du dich eigentlich noch an Viola erinnern?«, fragte Theo eines Tages.
    »Welche Viola?«, fragte Karl zurück.
    »Na, die Schulfreundin deiner Schwester.«
    Karl dachte nach. Aber er sah nur Marie vor sich. Die kleine Marie, wie begeistert sie war, wenn er sie mit nach draußen nahm und sagte, sie dürfe mit ihm und den Größeren spielen. Dabei hatte er sie nur an ein Plätzchen gesetzt, wo sie keinem im Weg war und er sie im Auge hatte. »Pass schön auf unsere Murmeln auf«, hatte er ihr eingeschärft.»Dass keins von den Schröder-Blagen kommt und sie klaut.« Und dann saß sie brav da, im schütteren Gras, durch das man den bröckeligen graubraunen Untergrund sah, mit ihrem gesmogten Hängekleidchen und der großen Schleife im Haar. Sie winkte ihm mit ihrem weichen Kinderhändchen zu, während er mit den anderen Jungen spielte.
    Natürlich hatte Mutter ihr das Hochzeitskleid genäht. Marie hatte ihm ein Foto ins Feld geschickt. Richtig elegant hatte sie ausgesehen und sehr glücklich. »Zwei Tage nach der Hochzeit musste Ernst schon wieder zurück an die Front«, hatte sie in ihrer Schulmädchenschrift geschrieben. »Aber das geht ja allen so, die jetzt heiraten.«
    »Viola hat mal deine Mutter besucht, kurz nach dem Krieg, und hat nach Marie gefragt. Die Viola, die mit den Storchenbeinen«, setzte Theo Karl auf die Schiene. »Deine Mutter sagt, sie hat sich sehr gemausert.«
    »Hieß sie nicht Matussek?« Karl kramte den Nachnamen aus dem Dunkel seiner Erinnerungen hervor.
    »Ja, genau. Matussek hieß sie.«
    »Und wie kommst du jetzt gerade auf die?«, fragte Karl.
    »Ich weiß nicht. Einfach so.«
    Karl grübelte. »Sie hatte braune Augen«, sagte er schließlich.

6
     
    Als Viola Matussek am 22.   Mai 1923 geboren wurde, hatte sie, wie alle
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