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Brombeersommer: Roman (German Edition)

Brombeersommer: Roman (German Edition)

Titel: Brombeersommer: Roman (German Edition)
Autoren: Dörthe Binkert
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interessierte, enttäuschte sie. Theo langweilte sich zu Hause, seit er denken konnte. Darum ging er so oft wie möglich zu Karl und seinen Schwestern. Außerdem konnte Karls Mutter die leckersten Reibekuchen machen.
    Selma Osterloh, Karls Mutter, nähte. Sie nähte fast immer, für fremde Leute wie für die eigene Familie. Sie saß an der Nähmaschine in einer Ecke der großen Wohnküche, und zum Rattern der Nadel, die eilig und ungeduldig in den Stoff stach, zum Auf und Ab der schwarz beschuhten Füße, die das gusseiserne Pedal traten und so das Schwungrad in Bewegung hielten, schmetterte der Kanarienvogel. Oft sang Selma Osterloh auch selbst, wenn der Vogel nicht gerade vor sich hin trillerte, und verstummte mit einem Lächeln, wenn jemand zur Tür hereinkam.
    »Na, meine Jüngsken«, sagte sie, wenn Karl und Theo den Raum betraten, »hungrig und müde?«
    Oft ging Theo gleich nach der Schule zu Osterlohs und machte an dem großen Esstisch mitten in der Küche Schulaufgaben, bis Karl vom Atelier nach Hause kam. Karls Schwester Elisabeth war schon in der Lehre, aber Marie saß oft am selben Tisch mit Schulheften, die so säuberlich eingeschlagen wie ihre Kleider gesäumt waren. Sicher hatte sie die hübschesten Kleider von allen in der Klasse. Manchmal saßen sie auch zu dritt vor ihren Heften, wenn Marie ihre Freundin Viola mitbrachte. Viola war lebhaft, zu lebhaft für die stets peinlich aufgeräumte, von Fleiß erfüllte Küche. »Nun halt schon still!«, sagte Marie manchmal. »Ich verwackele ja die Buchstaben.«
    Weder Karl noch Theo schenkten Viola Beachtung. Sie nannten sie das Storchenbein, weil sie so lange Beine hatte und so dünn war. Karl interessierte sich eigentlich noch gar nicht für Mädchen, und Theo schwärmte für Karls Schwester Elisabeth, die hohe Absätze trug, zierlich wie ein Püppchen war und nach Kölnisch Wasser duftete. Der unerbittliche, perfekt gestärkte Kragen ihrer weißen Bluse ließ Theo jedes Mal erschauern. Er wartete insgeheim darauf, dass sie gegen Abend in die Wohnung schwebte und verzögerte deshalb unter verschiedenen Vorwänden den Aufbruch, zu dem Karl, der von Theos Anbetung für seine Schwester nichts wusste, eilig drängte, wenn sie zu irgendeiner H J-Veranstaltung wollten. Hermann Gronau hatte ihnen immer Karten für die Abendveranstaltungen besorgt, zu denen sie eigentlich noch nicht hätten gehen dürfen.
     
    Und mit genau diesem Hermann Gronau saßen sie im Sommer 1946 in der Altstadtklause bei Bier und Korn.
    »Die Rechnung geht auf mich«, rief Hermann dem Mann am Tresen zu. Er stand auf und kramte das Geld aus der Hosentasche, in der Münzen und Noten lose durcheinanderfielen. »Karlemann kriegt gleich in der Praxis noch eine Spritze, damit die Nierensteine nicht so rumpeln. Was, mein Lieber?«
    Er riss die Kneipentür auf, schob die beiden hinaus auf den Gehweg und hakte den leicht gekrümmten Karl unter. »Und du«, nickte er Theo zu, »kannst auch gleich mitkommen, wenn du willst.«

3
     
    Seit Ende des Krieges wohnte Theo wieder zu Hause. Das Haus seiner Eltern war nur wenig beschädigt, die Eltern hatten beide überlebt. Er war vierundzwanzig Jahre alt, als er in sein ehemaliges Kinderzimmer zurückkehrte.
    Die Möbel waren unversehrt, nur stand jetzt ein weiteres Bett darin. Käthe Schulze war doch noch einmal schwanger geworden und hatte im Jahr 1940 einem weiteren Sohn das Leben geschenkt   – was sie fast das eigene gekostet hätte. Der kleine Siegfried aber war wohlauf, und sein Kinderbettchen wurde in Theos Zimmer aufgestellt. Theo wusste nicht viel mit dem Nachzügler anzufangen, er hätte fast sein Vater sein können, neunzehn Jahre älter, wie er war.
    Sonst hatte sich in seinem alten Kinderzimmer nicht viel verändert. Einige Fotos, die er als Junge an die Wand gehängt hatte, waren verschwunden. Andere, vor allem die Aufnahmen verschiedener Flugzeugtypen, hingen noch an ihrem alten Platz. Theo stand vor den leeren Stellen seiner Bilderwand und konnte die Lücken problemlos mit seinen Erinnerungen füllen.
    Da war Goebbels Besuch im Sommer 1932; Goebbels war damals Berliner Gauleiter der NSDAP gewesen. Der alte Schulze hatte seinen Sohn Theo zur Großkundgebung auf die »Kuhweide« mitgenommen. Die Straßen der Stadtwaren schwarz von Menschen, zehntausend hatten an der Veranstaltung teilgenommen. Am Rand der Kundgebung gab es Proteste und Gegendemonstrationen, es kam zu Straßenschlachten. In eine wären sie auf dem Nachhauseweg fast
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