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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition)
Autoren: Philippe Claudel
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nicht. Aus dem Alter sei sie heraus, meint sie, aber wie alt sie genau ist, weiß ich nicht. Sie selbst sagt, sie erinnere sich nicht mehr, aber auf jeden Fall sei sie geboren worden und werde mit Sicherheit einmal sterben. Sie sagt auch, dass sie nicht schlafe, weil sie vom Tod nicht überrascht werden, sondern ihm von Angesicht zu Angesicht begegnen wolle, wenn es einmal so weit sei. Mit geschlossenen Augen summt sie vor sich hin, bessert in Gedanken ihre Geschichten und Erinnerungen aus, webt Teppiche aus zerschlissenen Träumen; auf den Knien liegen ihre trockenen, von knotigen Adern durchzogenen und mit tiefen Linien gezeichneten Hände, die ihr ganzes Leben erzählen.
    Ich habe Fédorine von den Jahren erzählt, die ich weit weg von unserer Welt zugebracht habe. Sie hat sich um mich gekümmert, als ich zurückkehrte und Emélia noch zu schwach war. Fédorine pflegte mich wie damals, als ich noch ein Kind war. Sie erinnerte sich noch an alle Handgriffe. Sie fütterte mich vorsichtig mit einem Löffel, verband meine Wunden, päppelte meinen knochigen Körper langsam wieder auf, wachte an meinem Bett, wenn das Fieber stieg und ich delirierte und schlotterte, als läge ich in einer Tränke mit Eiswasser. So vergingen viele Wochen. Nie hat sie eine einzige Frage gestellt. Sie wartete, bis die Worte von selbst kamen. Und hörte zu, hörte lange zu.
    Sie weiß alles. Fast alles.
    Sie weiß von dem schwarzen Loch, das ich in meinen Träumen vor mir sehe. Sie weiß von meinen nächtlichen Besuchen am Rand des Kazerskwir . Oft stelle ich mir vor, dass sie vielleicht ähnliche Träume hat wie ich, dass es etwas gibt, das ihr keine Ruhe lässt und sie verfolgt. So etwas kennen wir alle.
    Ich weiß nicht, ob Fédorine je jung gewesen ist. Ich kenne sie nur krumm und gebeugt, welk wie eine Mispelfrucht, die monatelang im Keller gelegen hat. Auch zu der Zeit, als sie mich auflas, als ich noch ein Kind war, sah sie schon aus wie eine warzige Hexe. Unter ihrem grauen Kittel baumelten Brüste ohne Milch. Von weit her war sie gekommen, geflüchtet aus dem zerstörten Herzen Europas.
    Das alles ist schon ewig her: Ich stand vor der qualmenden Ruine eines Hauses. War es das Haus meines Vaters und meiner Mutter gewesen? Auch ich muss einmal eine Familie gehabt haben. Ich war vier Jahre alt und mutterseelenallein, ich spielte mit den Resten eines halbverbrannten Reifens. Damals war gerade ein weiterer Krieg ausgebrochen. Fédorine kam durch das Dorf. Sie zog einen Karren hinter sich her. Als sie mich sah, blieb sie stehen, kramte in ihrer Schultertasche, nahm einen schönen, rotglänzenden Apfel heraus und reichte ihn mir. Ich aß ihn wie ein Verhungernder. Fédorine sprach mit mir, sagte Worte, die ich nicht verstand, stellte mir Fragen, auf die ich nicht antworten konnte, streichelte mir über die Stirn und das Haar.
    Ich bin der alten Frau mit den Äpfeln gefolgt, wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln hinterherliefen. Sie hob mich auf ihren Karren, kauerte zwischen Säcken, drei Töpfen und einem Heuballen. Ein Kaninchen saß dort, es hatte schöne braune Augen, falbes Fell und einen weichen, warmen Bauch. Ich erinnere mich, dass ich das Tier streichelte und es sich meine Liebkosungen gerne gefallen ließ. Ich erinnere mich auch, dass Fédorine mit einem Mal in einer Kurve neben hohen Ginsterbüschen haltmachte, mich in meiner Sprache nach meinem Namen fragte, mir sagte, wie sie hieß, und mich aufforderte, mir die Überreste meines Dorfes weiter unten im Tal genau anzusehen. «Schau hin, kleiner Brodeck, daher kommst du, und dorthin wirst du nie mehr zurückkehren. Denn bald wird nichts mehr davon übrig sein. Sieh es dir genau an!»
    So gut ich konnte, habe ich mir also das Bild eingeprägt: das tote Vieh, ihre aufgedunsenen Bäuche, die sperrangelweit offenstehenden Scheunen und die eingestürzten Mauern. Auf der Straße lagen Menschen, wie Hampelmänner, mit ausgestreckten Armen und zusammengekrümmten Körpern. Aus der Entfernung sahen sie klein aus. Dann blendete die goldene, heiße Sonne mich, und das Bild meines Dorfes verschwand.
    Ich wälzte mich im Bett hin und her und spürte genau, dass Emélia neben mir auch nicht schlief. Als ich die Augen schloss, sah ich das Gesicht des Anderen vor mir, seine teichgrünen Augen, seine runden, blassroten Wangen, sein spärliches, gekräuseltes Haar, und ich roch seinen Veilchenduft.
    Emélia bewegte sich. Ich spürte ihren Atem auf der Wange, dann auf den Lippen. Ich öffnete
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