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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition)
Autoren: Philippe Claudel
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wie Bergkristall glitzernder Schweißtropfen hinunter. Er zitterte noch immer, und sein Zittern übertrug sich auf mich, weil er mich umfasst hielt. «Brodeck … Brodeck …», mehr sagte er nicht. Er ließ von mir ab und ging wieder hinüber zu den anderen Männern, die mich alle anstarrten.
    Ich fühlte mich wie eine kleine, verlassene Kaulquappe in einer Frühlingspfütze. Mein Gehirn war wie gelähmt. Ausgerechnet da fiel mir die Butter wieder ein, wegen der ich eigentlich gekommen war. Ich wandte mich also zu Dieter Schloss um, der hinter dem Tresen stand, und sagte: «Ich wollte nur Butter kaufen, ein bisschen Butter, das ist alles …» Er hob gleichgültig die mageren Schultern und rückte den Flanellgürtel über seiner Wampe zurecht, und da, ja, ich glaube, es geschah in diesem Moment, kam Wilhem Vurtenhau, ein Bauer, dessen Gesicht etwas von einem Kaninchen hat und dem sämtliche Ländereien zwischen dem Wald von Steinühe und der Hochebene von Haneck gehören, auf mich zu und sagte: «Du sollst so viel Butter bekommen, wie du willst, Brodeck, aber du wirst die Geschichte erzählen, du wirst unser Chronist sein.» Ich riss die Augen weit auf und fragte mich, woher wohl Vurtenhau, der strohdumm ist und wahrscheinlich nie im Leben ein Buch gelesen hat, dieses Wort «Chronist» kannte – er betonte es allerdings auf der falschen Silbe.
    Geschichten erzählen ist ein richtiger Beruf und gewiss nicht meiner, denn ich verfasse höchstens kurze Berichte über das Wachstum der Blumen und der Bäume, über die Jahreszeiten, das Wild, den Wasserstand des Flusses Staubi und über die Regen- und Schneefälle; die Behörde ist sehr weit weg, eine Tagesreise entfernt, und meine Arbeit ist nicht wichtig, keinen interessieren meine Berichte. Ich weiß nicht genau, ob sie ihren Adressaten erreichen und ob sie überhaupt gelesen werden.
    Seit dem Krieg arbeitet die Post unzuverlässig, und es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis sie wieder richtig funktioniert. Ich bekomme fast kein Geld mehr und habe das Gefühl, dass sie mich vergessen haben, für tot halten oder mich einfach nicht mehr brauchen.
    Alfred Wurtzwiller, der Postbeamte, geht einmal alle vierzehn Tage zu Fuß nach S., er liefert Post ab – nur er allein darf das, er hat die Genehmigung – und bringt die Briefe und Pakete von dort mit; manchmal teilt er mir mit, dass er eine Zahlungsanweisung für mich dabeihat, und überreicht mir ein kleines Bündel mit Geldscheinen. Ich bitte ihn um Erklärungen. Er macht eine vage Handbewegung, die ich nicht deuten kann, und aus seinem Mund, der wegen einer großen Hasenscharte ganz zerknautscht aussieht, kommt ein Gestammel, das ich genauso wenig verstehe. Also nehme ich das zerknitterte, von ihm dreimal abgestempelte Dokument und das wenige Geld entgegen. Davon fristen wir unseren Lebensunterhalt.
    «Wir erwarten keinen Roman von dir.» Jetzt hat Rudi Gott, der Hufschmied, gesprochen. Obwohl er so hässlich ist – ein Pferdehuf hat ihm die Nase zerschmettert und den linken Wangenknochen eingedrückt –, ist er mit einer wunderschönen Frau verheiratet. Sie heißt Gerde und stellt sich immer vor der Schmiede in Positur, als wartete sie auf den Maler, der einmal ihr Porträt malen wird. «Du wirst erzählen, was geschehen ist, das ist alles. Wie in deinen anderen Berichten.» Mit der rechten Hand umklammerte Gott seinen Schmiedehammer, seine Schultern waren nackt, und er trug seine lederne Schürze. Er stand neben dem Kamin, sodass das Feuer sein Gesicht erhitzte und der Stahl seines Werkzeugs glänzte wie eine gut geschliffene Sensenklinge. «Einverstanden», sagte ich, «ich werde alles erzählen, ich werde es versuchen, versprochen, ich versuche es, aber ich werde Ich sagen, wie in meinen Berichten, anders kann ich es nicht. Und ich warne euch, ‹ich› bedeutet immer alle, alle hier, versteht ihr? Wenn ich ‹ich› sage, meine ich damit das ganze Dorf und alle Weiler ringsum, also uns, verstanden?»
    Ein Rumoren ging durch das Gasthaus, ein wohliges Brummen, wie Lasttiere es von sich geben, wenn ihnen das Geschirr etwas gelockert wird, und dann sagten sie: «Einverstanden. Mach es, wie du willst, aber gib acht, du darfst nichts weglassen, du musst alles erzählen. Wirklich alles, damit jeder, der den Bericht liest, alles versteht und auf uns keine Schuld fällt.»
    Wer soll das lesen, habe ich gedacht. Und vielleicht wird der Leser verstehen, aber verzeihen ist noch etwas ganz anderes; jedoch wagte ich
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