Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition)
Autoren: Philippe Claudel
Vom Netzwerk:
Schwierige, Uneindeutige so wiederzugeben, wie es sich zugetragen hat. Versuchen werde ich es, aber dass es auch gelingen wird, kann ich nicht versprechen.
    Damit man mich auch richtig versteht, sage ich es noch einmal: Ich hätte lieber geschwiegen, aber sie haben mir gesagt, dass ich die Geschichte aufschreiben soll, und ich sah, dass sie ihre Hände in den Hosentaschen zu Fäusten ballten, und stellte mir vor, dass diese Hände die Griffe der Messer hielten, die vor kurzem erst …
    Aber ich darf nicht vorgreifen, obwohl das schwierig ist, denn es ist, als spürte ich ihre Blicke im Rücken. Seit einigen Tagen fühle ich mich wie ein gehetztes Tier, das von einer ganzen Jagdgesellschaft gejagt wird. Es ist, als könnte ich die schnüffelnden Hunde hinter mir hören. Ich fühle mich beobachtet, verfolgt, überwacht, als stünde immer jemand hinter mir, dem keine meiner Bewegungen entgeht, der meine Gedanken lesen kann.
    Ich werde von diesen Messern noch erzählen. Ich werde darauf zurückkommen müssen. Aber ich möchte noch sagen, dass es unmöglich oder zumindest gefährlich gewesen wäre, ihre Bitte abzuschlagen, in dieser besonderen Stimmung, als die Männer noch das Blut vor sich sahen. Also habe ich zugestimmt, notgedrungen. Ich bin einfach im falschen Augenblick im Gasthaus gewesen, einige Minuten nach dem Ereignis, in jenem Augenblick, als alle wie erstarrt waren und alles auf der Kippe stand – und ich hatte noch Glück, dass sie mich, den Erstbesten, der das Gasthaus betrat, zum Retter erwählten und nicht in Stücke zerrissen.
    Das Gasthaus Schloss ist die größte Wirtschaft in unserem Dorf, wo es außerdem fünf weitere Gaststätten gibt sowie eine Post, eine Kurzwarenhandlung, ein Haushaltswarengeschäft, einen Schlachter, ein Lebensmittelgeschäft, eine Schule und die Zweigstelle eines Notariats in S., wo der senile Siegfried Knopf mit seinem Lorgnon das Regiment führt (er nennt sich Herr Rechtsanwalt , obwohl er eigentlich nur Schreiber ist). Und es gibt das kleine Büro von Jenkins, der früher hier Polizist war, aber im Krieg gefallen ist. Ich erinnere mich, dass Jenkins als Erster in den Krieg gezogen ist, und er, der sonst nie lachte, schüttelte an jenem Tag allen, denen er begegnete, freudestrahlend die Hand, als ginge er zu seiner Hochzeit. Er war nicht wiederzuerkennen. Als er beim Sägewerk Möberschwein um die Ecke bog, winkte er ausgelassen, warf seine Mütze in die Luft und rief fröhlich zum Abschied. Wir haben ihn nie wieder gesehen. Seine Stelle wurde nicht wieder besetzt, und die Rollläden seines kleinen Büros sind seitdem heruntergelassen. Ein wenig Moos wächst auf der Schwelle, die Tür ist verschlossen, und ich weiß nicht, wer den Schlüssel verwahrt. Ich habe auch nicht nachgefragt. Ich habe gelernt, nicht zu viele Fragen zu stellen. Ich habe ebenfalls gelernt, meine Kleidung der Farbe der Hausmauern und des Straßenstaubes anzupassen. Das ist nicht schwierig, und so bleibe ich vollkommen unauffällig.
    Im Gasthaus Schloss kann man Lebensmittel kaufen, wenn der Laden der Witwe Bernhart bei Sonnenuntergang seine Eisenrouleaus hinuntergelassen hat. Außerdem sind immer viele Leute in der Wirtschaft. Zwei Räume gibt es dort: vorne den großen, wo die Wände mit Holz getäfelt sind, das sich schon schwarz gefärbt hat, und Sägespäne auf den Bodendielen liegen. Man stolpert fast, wenn man die zwei steilen Sandsteinstufen hinuntersteigt, die in der Mitte ganz ausgetreten sind von den Schuhen der Tausenden Zecher, die in diesem Wirtshaus schon ihr Bier getrunken haben. Nach hinten hinaus liegt ein kleinerer Saal, den ich nie betreten habe. Eine gediegene Tür aus Lärchenholz mit der eingeschnitzten Jahreszahl 1812 trennt die beiden Räume. Diese kleine Gaststube ist für die Männer reserviert, die dort einmal wöchentlich, am Dienstagabend, zusammenkommen, trinken und Tabak von ihren Feldern in Porzellanpfeifen mit geschweiften Rohren oder schlechte Zigarren zweifelhafter Herkunft rauchen. Sie haben sich sogar einen Namen gegeben: Die Erweckensbruderschaft . Ein seltsamer Name für eine seltsame Gesellschaft. Weder weiß man, wann genau sie gegründet wurde und welche Ziele sie verfolgt, noch wie man aufgenommen wird und wer dazugehört – wahrscheinlich die reichen Bauern, vielleicht der Rechtsanwalt Knopf, Schloss selbst und natürlich Hans Orschwir, der Bürgermeister und reichste Mann in unserer Gegend. Man weiß nicht, was sie dort treiben und worüber sie beraten.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher