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Brodecks Bericht (German Edition)

Brodecks Bericht (German Edition)

Titel: Brodecks Bericht (German Edition)
Autoren: Philippe Claudel
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nicht, diesen Gedanken auszusprechen. Nachdem ich also zugestimmt hatte, war ihre Erleichterung zu spüren, sie lockerten die Fäuste und nahmen die Hände aus den Taschen. Es kam mir so vor, als würden die Statuen wieder zu Menschen. Ich holte tief Luft. Ich war um Haaresbreite davongekommen. Was sie mit mir gemacht hätten – das wollte ich lieber nicht wissen.
    Das alles geschah zu Beginn des Herbstes. Der Krieg war seit einem Jahr vorbei. Auf den Hängen wuchsen blasslila Herbstzeitlosen, und am Morgen lag auf den Granitgipfeln der Prinzhorni, die unser Tal im Osten abschließen, oft der erste puderige weiße Schnee, der bis Mittag geschmolzen war. Fast auf den Tag genau drei Monate waren vergangen, seit der geheimnisvolle Andere bei uns eingetroffen war, mit seinen großen Koffern, seinen bunten Kleidern, seinem Pferd und seinem Esel. «Er heißt Monsieur Socrate», hatte er gesagt und auf den Esel gedeutet, «und das hier ist Mademoiselle Julie. Bitte begrüßen Sie Mademoiselle Julie.» Das schöne Pferd, ein Brauner, senkte zweimal den Kopf, woraufhin drei Frauen, die zufällig dabeistanden, erschrocken zurückwichen und sich hastig bekreuzigten. Noch immer habe ich den Klang seiner leisen Stimme im Ohr, als er uns seine beiden Tiere vorstellte, als wären es Menschen, und wir sprachlos danebenstanden.
    Schloss stellte Gläser, Becher, Tassen und Wein für alle heraus. Ich musste auch etwas trinken. Wie zum Schwur. Mit Grauen stellte ich mir das Gesicht des Anderen vor und das Zimmer, in dem er jetzt wohl lag, ein Zimmer, das ich ein wenig kannte, weil ich auf seine Einladung hin einmal dort gewesen war. Er hatte einige rätselhafte, vieldeutige Worte gesprochen und mir seinen seltsamen schwarzen Tee angeboten, einen Tee, wie ich ihn bis dahin nie gekostet hatte. Überall lagen dicke Bücher herum, mit Titeln, die ich nicht verstand, einige in fremden Schriften und Sprachen verfasst, fremde, klappernde, klimpernde Worte, stellte ich mir vor. Manche Bücher hatten einen goldverzierten Einband, andere hingegen waren völlig zerlesen und zerfleddert. Außerdem sah ich in seinem Zimmer ein chinesisches Porzellanservice, das er in einer mit Nägeln beschlagenen Schatulle aus Leder aufbewahrte, ein Schachspiel aus Knochen und Ebenholz, einen Spazierstock mit geschliffenem Kristallknauf und noch viele andere Dinge, die in seinen Koffern verstaut waren. Er lächelte breit, ein Lächeln, das ihm oft die Worte ersetzte, mit denen er sparsam umging. Seine Augen waren rund, von einem schönen Jadegrün und standen leicht hervor, wodurch sein Blick eindringlich wurde. Er sprach wenig, meist hörte er zu.
    Ich habe daran gedacht, was diese Männer, die ich seit Jahren kenne, getan hatten. Sie waren keine Ungeheuer, sondern Bauern, Handwerker, Landarbeiter, Waldarbeiter, kleine Angestellte, kurz, Menschen wie Sie und ich. Ich stellte mein Glas ab, nahm die Butter, die Dieter Schloss mir reichte, ein dickes, in knisterndes Wachspapier eingeschlagenes Stück, verließ das Gasthaus und rannte nach Hause.
    So schnell bin ich noch nie gerannt.
    Noch nie im Leben.

3
    Als ich nach Hause kam, war Poupchette eingeschlafen, und Fédorine döste neben ihr; ihr halboffener Mund entblößte die drei Zähne, die ihr noch geblieben sind. Emélia hörte auf zu summen. Sie blickte zu mir auf und lächelte. Ich brachte es nicht fertig, ihr etwas zu sagen. Schnell stieg ich die Treppe zu unserem Schlafzimmer hinauf, schlüpfte zwischen die Laken und wollte sofort alles vergessen, was ich wusste. Sobald ich die Augen schloss, fühlte ich mich, als fiele ich in einen tiefen Abgrund.
    In jener Nacht schlief ich kaum, und wenn, dann nur schlecht. Immer wieder sehe ich in meinen Gedanken und Träumen den Kazerskwir vor mir. Dass es den Kazerskwir gibt, daran ist der Krieg schuld: Fast zwei lange Jahre war ich nicht zu Hause gewesen. Man hatte mich fortgebracht wie Tausende andere Menschen auch, wegen unseres Aussehens, unseres Namens und unserer Religion, weil wir anders waren als die anderen. Weit weg von zu Hause hat man uns eingesperrt, an einem Ort, an dem nichts Menschliches war, wo wir wie Tiere waren, die lediglich wie Menschen aussahen.
    Jenes Jahr habe ich in völliger Dunkelheit verbracht. In meinem Leben klafft ein schwarzes bodenloses Loch, das ich Kazerskwir , den Krater, genannt habe.
    Die alte Fédorine kommt kaum aus ihrer Küche heraus. Die Küche ist ihr Königreich. Nachts sitzt sie stundenlang auf ihrem Stuhl. Sie schläft
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