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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug
Autoren: Marieke Pol
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enttäuschtem Schweigen und um die Augen herum von unterdrücktem Weinen ab, doch wenn sie heute in den Spiegel schaut, sieht sie eine hübsche Frau.
    Bob liest in der Lounge Zeitung, als Esther auf dem Weg zum Frühstücksraum vorbeiläuft. Sie nicken einander freundlich zu,
good morning
. Er sieht der älteren Frau im dunklen Hosenanzug kurz hinterher, als würde er etwas in der Bewegung ihrer Hüften erkennen.
    Esther ist der allerletzte Frühstücksgast, um sie herum werden bereits die Tische fürs Mittagessen gedeckt. Nach dem Frühstück spaziert sie über die Hauptstraße. Sie betritt eine Boutique und mustert die Kleidung, die für sehr junge Mädchen bestimmt ist. Als sie merkt, dass die Verkäuferin sie dabei beobachtet, erklärt sie, dass sie Esther ist, von »Lady Esther«. Die junge Frau starrt sie verständnislos an.
    Draußen wird es schnell wärmer. Esther geht zu dem Platz, wo die Taxen stehen. Marjorie und Bob sind bereits mit ihrem Mietwagen unterwegs in Richtung Franks Weinberg.
    Ada geht zu Fuß. Sie will die Sonnenwärme spüren. Jeder, der an der Westküste der Südinsel lebt, wird das verstehen. Ab und zu schießt ein Auto vorbei, ansonsten ist es ruhig. Sie geht nicht besonders schnell und wird mit der Zeit immer langsamer, da ihre Kniegelenke protestieren und sie vom Lackleder ihrer neuen Schuhe Blasen bekommt. Sie kommt an einem Weinberg nach dem anderen vorbei, an einem Feld nach dem anderen, aber erst nachdem sie auf einem Schild eine Traubenblut-Vignette entdeckt hat, nimmt sie allmählich ihre Umgebung wahr. Sie ist etwas verwirrt, da Franks Anbaugebiet in ihrer Erinnerung nicht so ausgedehnt war. Er hat im Laufe der Zeit wohl einige Hektar dazugekauft. Scheinbar endlos weite Felder, Weinstöcke in geraden Reihen. Von Zeit zu Zeit das trockene Geräusch eines Schusses,
Bird Shooting
, denkt sie, und vor ihrem geistigen Auge tauchen die Hüften eines Mannes auf, um die ein schwerer Ledergürtel hängt, an dem tote Vögel baumeln. Zwei Hände schnallen den Gürtel in aller Ruhe los und legen ihn auf die Erde unter einen krummen Baum. Da bist du ja, sagt eine tiefe Stimme.
    Erhitzt zieht sie ihre Jacke aus und geht weiter. Trotz der Blasen und dem stechenden Schmerz in ihren Knien geht sie unwillkürlich einen Schritt schneller. Schließlich taucht am Horizont, etwa dort, wo die Berge anfangen, ein bildschönes Landhaus auf. Es ist im Kolonialstil gebaut. Sie erkennt es von der Broschüre wieder, die für die Touristen auf dem Hoteltresen bereitliegt. Allmächtiger Gott, murmelt sie, allmächtiger Gott, und sie geht schnell weiter zur Zufahrt des Grundstückes. Dort bleibt sie keuchend stehen, sieht sich um und wechselt die Straßenseite in Richtung Bushaltestelle. Atemlos lässt sie sich auf die Bank fallen. Sie trägt eine Menge an Jahren und Qualen mit sich, Erinnerungen, die heute scheinbar noch schwerer wiegen, als sie es je zuvor getan haben. Während sie versucht, wieder zu Atem zu kommen, sieht sie auf den Weinberg.
    Die Sonne taucht die Felder in tiefes, flammendes Herbstlicht. Kilometerweit ist weiße Gaze über den Sträuchern drapiert, wie ein endloser Brautschleier. Die überschüssige Gaze liegt dazwischengestopft, als wäre es derselbe Schleier nach einer durchzechten Nacht, tief unten im Schrank. Der Verlust hängt in der Luft. Seine Fußabdrücke auf den Wegen sind noch nicht ausgelöscht.
    An beiden Seiten des breiten, unbefestigten Weges, der geradewegs durch die Felder zu dem Betrieb und dem Landhaus in der Ferne führt, stehen mannshohe Marmorsäulen, von Bäumen flankiert. Ein gusseiserner Bogen, mit einer prachtvoll gemalten Traubenblut-Vignette, überspannt den Platz dazwischen. Ada kann ein Gefühl des Stolzes nicht unterdrücken. Sie lehnt ihren Kopf an die Glaswand der Bushaltestelle und schließt die Augen. Er wäscht in Wein sein Kleid, in Traubenblut sein Gewand.
     
    Bei näherer Betrachtung ist es eher ein Zeichen und kein Zufall, dass sie sich nicht über den Weg laufen. Zufall ist nicht das richtige Wort dafür.

2
    An einem vernebelten Frühlingstag im Jahre 1953 schenkte Ada van Holland in einem Anflug von Mitleid ihre Jungfräulichkeit einem streng reformierten Bauernsohn, der ihr das danach außerordentlich übel nahm, insbesondere, als Wochen später ihre Periode ausblieb.
    Sie hatte ihn ein paar Mal in der Kirche gesehen, ein neues Gesicht, über das man flüsterte, dass er aus Oude Tonge kam, einer der Unglücklichen, die bei der Februarflut alles
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