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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug
Autoren: Marieke Pol
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alt ich bin. Das ist ihr Standardtext, bei ihrem ersten Blick des Tages in den großen, geschliffenen Spiegel. Es wundert sie immer wieder: Wie passt ein so junger Mensch in einen so alten Körper? Ein Kissen, auf das sich ein schwerer Mensch gesetzt hat, das ist mein Gesicht, voller Knautschfalten und mit verschlissenen Stellen, ich kann mich nicht mehr auf der Straße blicken lassen. Eine Schönheit bin ich nie gewesen, Augenringe hatte ich schon immer, aber sieh dir das jetzt nur an. Man kann sein Haar mahagonirot färben, bis man selbst zum Baum wird, pudern und malen, bis man tot umfällt, aber am Kopf, daran ändert sich nichts, das ist ein alter Kopf.
    Die Tatsache stimmt sie mit einem Mal zufrieden.
    Das Murmeln ist zum ständigen Begleiter ihrer täglichen Handlungen geworden, und immer öfter schaltet sie, wenn keine Kunden da sind, die Musik im Laden aus. Die gefälligen Sambaklänge stören sie bei den Gesprächen, die sie mit sich selbst führt. Oh, Lady Esther, sagt sie zum Beispiel, während sie an einem Brautkleid für eine Frau arbeitet, die für eine entzückende Kreation von
ihr
den ganzen Weg von London nach Auckland geflogen ist, oh, Lady Esther, Sie sind die einzige Designerin, die etwas für meinen Körper schneidern kann. Das kann sie endlos wiederholen, wie ein Mantra, bis ihre Assistentin hereinkommt und sieht, wie sie hinter ihrer goldenen Lesebrille verstört aufschaut.
    »Sie dürfen hier nicht rauchen«, sagt der junge Mann, der ihr den Koffer die Treppe heraufgetragen hat, »all unsere Zimmer sind Nichtraucherzimmer.« Esther zieht den Rauch tief ein und macht eine theatralische Pause.
    »Ich habe ein Blutgerinnsel im Herzen, ich kann jeden Moment tot umfallen.«
    Das stimmt zwar, dennoch ist die Wirkung immer wieder schön.
    »Oh …«, er stolpert rückwärts zur Tür, »ich werde fragen, ob … vielleicht dürfen Sie …« Sie gibt ihm ein großes Trinkgeld und schließt lächelnd die Tür. Dass jede Zigarette die letzte sein könnte, hat einen enormen Effekt auf den Geschmack. So zu leben gefällt ihr, das kommt ihr bekannt vor, denn lange Zeit hat sie wenig Vertrauen in die Zukunft gehabt. Europa hat sie weit hinter sich gelassen, doch es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass die Existenz irgendwo unbedroht sein könnte, auch wenn es in einem Land auf der anderen Seite der Erde ist, wo alle einander »Having a lovely day, dear?« sagen. Selbst dort verfolgte sie etwas, das keine wirkliche Form hatte, das sie höchstens als einen schwarzen Schatten in den Ecken eines jeden Raumes wahrnehmen konnte, das sie aber dennoch gehetzt werden ließ, immer auf der Hut. Und so ist es noch immer.
    Jetzt ist sie müde. Der Flug von Auckland nach Wellington, genau zur Mittagszeit, und danach der Taxifahrer, der bis nach Martinborough nicht nur seine Körperausdünstungen, sondern auch sein langweiliges Geschwätz im Wagen verbreitet hat. Sie lässt sich hintenüber aufs Bett fallen und schaut geradewegs auf den Rauchmelder an der Zimmerdecke.
     
    Drei Zimmer weiter reibt Ada ihre durchgefrorenen Füße unter dem Betttuch warm. Die Kälte hat sie aus Greymouth mitgenommen, als ob ihr Körper noch nicht verstanden hätte, dass es hier auf der Nordinsel ein Stück wärmer ist als unten an der Westküste. Neben ihr liegt ein junger Mann mit graugrünen Augen und einem durchdringenden Blick. Eine dunkelblonde Locke fällt ihm in die Stirn. Er schnaubt, reckt die Arme und verschränkt sie behaglich hinter seinem Kopf, ein selbstzufriedenes Lächeln, sie muss nicht aufschauen, um es zu sehen. Um zu sehen, wie sich die Muskeln unter seiner Haut bewegen.
    Fast hätte ich dich vergessen, um ein Haar wäre es mir gelungen.
    Sein Lächeln vertieft sich. Er dreht sich auf die Seite und studiert sie, zieht in aller Ruhe mit einem Finger eine Linie über ihrer Stirn nach, über Nase und Mund. Der Finger bleibt an ihrer Unterlippe hängen, sie öffnet den Mund, streckt den Hals und winselt kurz auf, wie ein Welpe.
    Lügnerin, sagt er, du hast mich nicht vergessen, keinen Tag lang.
    Trotz der schweren Daunendecke auf dem Hotelbett werden ihre Füße nicht warm. In ihrem Alter reicht das nicht mehr aus. Sie steigt vorsichtig aus dem Bett und geht ins Badezimmer. Wie oft hat sie ihrer Tochter schon versprochen, dass sie sich Thermounterwäsche kaufen wird – Mum, frieren braucht man nun wirklich nicht –, und jedes Mal, wenn Julie sie wieder frierend antrifft, muss sie gestehen, dass sie es vergessen
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