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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug
Autoren: Marieke Pol
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Uhr sitzt sie gestriegelt und gewaschen in dem großen Esssaal, unsicher beäugt sie die anderen Gäste. Ihr Sohn ist es schon seit Jahren nicht mehr gewohnt, so früh zu essen, dafür aber umso mehr, auf die Wünsche seiner Mutter einzugehen. Er ist den ganzen Tag in seinem Mietwagen durch die Weinberge gefahren, wie die meisten Touristen es in dieser Gegend tun, und er erzählt von seinen Beobachtungen. Es hat sich alles sehr verändert hier, dabei gestikuliert er ausladend und begeistert mit den Händen.
    Ada möchte ihr Abendessen auf dem Zimmer einnehmen. Sie taucht ein im Luxus, das redet sie sich jedenfalls selbst ein. In Wirklichkeit mag sie es nicht, allein in so einem vornehmen Restaurant zu sitzen. Es gibt Dinge, die sie nicht beherrscht, wie zum Beispiel den Umgang mit dem Fischbesteck oder die Auswahl eines Weins. Sie isst auf ihrem Zimmer und sieht fern.
    Nach dem Abendessen machen Marjorie und Bob – der jetzt auch merkt, wie müde er ist – einen kleinen Spaziergang. Vereinzelt erkennen sie das Martinborough von vor vierzig Jahren wieder und frischen Erinnerungen auf. Marjorie stützt sich mit ihrem ganzen Gewicht auf den Arm ihres Sohnes. Unerwartet schießen ihr die Tränen in die Augen. Bin ich eine gute Mutter gewesen?, fragt sie. Das wird der Jetlag sein. Er muss darüber lachen und neckt sie.
    Als Esther aufwacht, dämmert es bereits. Das ist ihr egal, sie ist es gewohnt, spät zu essen. Im Speisesaal erzählt sie ihre ganze Geschichte einer blonden Frau, die beim Fernsehen ist und regelmäßig ihren Urlaub in diesem Hotel verbringt. Ihre ganze Geschichte, bis auf die Teile, die sie nicht erzählen darf. Kein Wort über Frank de Rooy. Die Frau findet ihr Leben wahnsinnig interessant, daraus könnte man direkt einen Film machen. Esther beeindruckt das nicht, das wurde ihr schon öfter gesagt, und es ist doch nie etwas daraus geworden. Als die blonde Frau weg ist, gerät sie kurz in Panik. Auf ihrem Zimmer wechselt sie zwischen Fernseher und Buch hin und her, aber nichts dringt wirklich zu ihr hindurch. Zum Rauchen geht sie auf den Balkon, mit Blick auf den Park. Sie denkt an einen Spaziergang vor langer Zeit, entlang des Avon, an ihre bloßen Füße, die sie hartnäckig ins kalte Wasser hielt, und an graugrüne Augen, die dies alles genau studierten. Wieder ein Toter mehr. Vergib mir, sagt sie in die Stille, obwohl sie nicht an ein Leben nach dem Tod glaubt. Im Zimmer nebenan hört sie eine Männerstimme telefonieren, ein lebhaftes Brummen. Es klingt, als würde niederländisch gesprochen.
    Marjorie schläft schon seit Stunden, ihr Zimmer befindet sich direkt über dem von Ada.
    Ada wacht mitten in der Nacht auf. Weil Derk nicht dabei ist, könnte sie die Leselampe anschalten, doch zum Lesen ist sie zu müde. Im Dunklen tauchen die Bilder und Worte auf. Es sind nur einige wenige, sie ändern sich nie; sie rütteln sie noch immer auf und ziehen sie mit sich. Sie masturbiert, niemand sieht es. Ihr Körper ist dazu noch immer in der Lage. Schöne, volle, runde Oberschenkel, sagt eine tiefe Stimme zu dem Mädchen, das sie jetzt ist. Dem folgt die Melancholie auf dem Fuße. Sie lässt den Tränen auf ihren Wangen freien Lauf, etwas, was sie sich sonst ebenfalls nicht zugesteht. Allmählich schläft sie ein.
    Am nächsten Morgen lässt sie sich das Frühstück aufs Zimmer bringen. Das fühlt sich an wie eine Niederlage, aber es schmeckt ihr trotzdem.
    Im Frühstücksraum ist Marjorie wieder eine der Ersten, folglich ist auch Bob da. Sie beide spüren jetzt erst wirklich die Müdigkeit von der Reise und sind etwas schweigsam. Marjorie trägt ihr schwarzes Kostüm, dasselbe, das sie auch auf Hans’ Beerdigung getragen hat. Die Jacke bekommt sie nach vier Jahren nicht mehr zu, der Rock passt gerade noch. Nach dem Frühstück geht sie zurück auf ihr Zimmer.
    Ada gönnt sich viel Zeit zum Baden und Anziehen, als wäre sie verliebt und hätte eine Verabredung. Sie hat sogar ihre Paua-Muschelkette mitgenommen, die das Blau ihrer Augen betont. Andächtig steckt sie ihr silberweißes Haar hoch, sie braucht dafür eine ganze Weile, und das Resultat kann sich sehen lassen. Merkwürdig, denkt sie, während sie versucht, sich von allen Seiten zu betrachten, sie haben immer gesagt, dass ich hübsch bin, aber ich habe es nie gesehen. Jetzt sind an einigen Stellen ihrer Haut Flecken aufgetaucht, ein gutartiger Krebs, ihre Haare sind glatt und dünn geworden, um den Mund herum zeichnen sich Falten von
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