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Brandwache

Brandwache

Titel: Brandwache
Autoren: Connie Willis
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müssen, schlich stumm wie
eine Heilige durch die Gegend, bis ich sie bat, mir zu helfen.
    »Warst du noch mal bei Dunworthy?« hatte sie mich
gefragt.
    »Ja. Willst du wissen, welchen wertvollen Rat er mir gab?
›Schweigen und Demut sind die heiligen Pflichten des
Historikers.‹ Er meinte, ich würde von St. Paul begeistert
sein. Ein Juwel des großen Meisters. Er hätte mir lieber
verraten sollen, wann und wohin die Bomben fallen, damit ich mich
rechtzeitig in Sicherheit bringen kann.« Ich warf mich auf mein
Bett. »Irgendwelche Vorschläge?«
    »Wie gut bist du im Gedächtnisanzapfen?« wollte sie
wissen.
    Ich richtete mich auf. »Ziemlich gut. Meinst du, ich sollte
mich assimilieren?«
    »Dazu reicht die Zeit nicht. Ich finde, du solltest alles
direkt im Langzeitgedächtnis speichern.«
    »Schlägst du Endorphine vor?« fragte ich.
    Wenn man gedächtnisunterstützende Drogen benutzt, um
Informationen im Langzeitgedächtnis zu speichern, gibt es ein
Riesenproblem: Das Wissen sitzt nicht mal für den Bruchteil
einer Sekunde im Kurzzeitgedächtnis, und das macht das Anzapfen
oder Erinnern so kompliziert, um nicht zu sagen tödlich
entnervend. Es verunsichert total, weil man ständig das
Gefühl hat, ein Déjà-vu-Erlebnis zu haben,
wenn man sich plötzlich an etwas erinnert, das man vorher
garantiert nie gehört oder gesehen hat. Das eigentliche Problem
ist jedoch nicht das sanfte Gruseln, das einen beschleicht, sondern
das Anzapfen des Gedächtnisspeichers. Man weiß nicht
genau, auf welche Weise das Gehirn die Informationen abruft, die es
benötigt, aber auf jeden Fall ist das Kurzzeitgedächtnis
daran beteiligt. Die kurze, manchmal verschwindend geringe Zeit, die
die Information im Kurzzeitgedächtnis haftet, dient offenbar
noch anderen Zwecken, als Wissen spontan verfügbar zu machen.
Der gesamte komplexe Prozeß des Selektierens und Speicherns
scheint im Kurzzeitgedächtnis stattzufinden, und ohne die Hilfe
von Drogen oder synthetischen Surrogaten, die es später wieder
aktivieren, kann man unmöglich Informationen abrufen.
    Bei Prüfungen hatte ich schon Endorphine genommen und noch
nie Schwierigkeiten mit dem Anzapfen gehabt, und wie es aussah, war
es jetzt die einzige Möglichkeit, das gesamte notwendige Wissen
in kurzer Zeit zu speichern. Doch das bedeutete auch, daß ich
alle Informationen nicht einmal lange genug im Gedächtnis hatte,
um sie wieder vergessen zu können. Brauchte ich eine bestimmte
Information, konnte ich sie abrufen. Doch bis dahin war ich so
unwissend, als gäbe es sie überhaupt nicht in irgendeinem
versteckten Winkel meines Gehirns.
    »Du kannst doch ohne synthetische Surrogate abrufen, nicht
wahr?« fragte Kivrin mit skeptischer Miene.
    »Mir wird wohl nichts anderes übrigbleiben.«
    »Auch unter Streß? Nach Schlafentzug? Mit niedrigem
körpereigenen Endorphinpegel?« Was genau hatte sie
eigentlich während ihres Praktikums getan? Sie hatte nie
darüber gesprochen, und Studenten dürfen keine Frage
stellen. Streßfaktoren im Mittelalter? Ich dachte immer, diese
Jahrhunderte hätte die Menschheit verschlafen.
    »Das hoffe ich«, gab ich zurück. »Jedenfalls
probiere ich diesen Tip aus, wenn du meinst, er hilft mir.«
    Sie sah mich wieder mit diesem Märtyrerblick an und sagte:
»Nichts hilft.« Danke, heilige Kivrin vom Balliol
College!
    Trotzdem versuchte ich es. Es war jedenfalls besser, als in
Dunworthys Zimmer zu sitzen, mich durch seine historisch authentische
Brille anblinzeln zu lassen und seinen Worten zu lauschen, ich
würde von St. Paul begeistert sein.
    Als die Bücher von der Bodleyana-Bibliothek nicht kamen,
überzog ich mein Konto und kaufte Blackwell leer. Bände
über den Zweiten Weltkrieg, Keltische Literatur, die Geschichte
der öffentlichen Verkehrsmittel, Reiseführer, alles, was
mir zu dem Thema einfiel. Dann mietete ich mir einen hochtourigen
Rekorder und schloß mich daran an. Als ich wieder zu mir kam,
war ich so entsetzt von dem Gefühl, genausowenig zu wissen wie
vor der Prozedur, daß ich die U-Bahn nach London nahm und den
Ludgate Hill hinaufraste, um zu sehen, ob der Stein der Brandwache
irgendwelche Erinnerungen in mir auslöste. Nichts passierte.
    Dein Endorphinpegel ist noch nicht wieder normal, versuchte ich
mich zu trösten. Doch die Aussicht auf das bevorstehende
Praktikum lastete wie eine Bedrohung auf mir. Da wird scharf
geschossen, mein Junge! dachte ich. Nur weil du als Hauptfach
Geschichte studierst und dein Praktikum absolvierst, heißt
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