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Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer

Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer

Titel: Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
Autoren: Klaus Wanninger
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auch heute wieder Unzählige zusammengefunden, ihren Protest deutlich zu machen.
    »Die Veranstalter sprechen von 110.000 Teilnehmern. Wie viele Menschen habt ihr gezählt?«, fragte Thomas Weiss.
    »105.000«, antwortete Braig, »mindestens.«
    Er war am Rand des Schlossgartens auf Andreas Hauck getroffen, einen Kollegen, mit dem er seit ihrer gemeinsamen Zeit auf der Polizeihochschule in Villingen-Schwennin­gen und einigen Dienstjahren danach immer noch in gelegentlichem Kontakt stand. Hauck hatte inzwischen eine Führungsposition bei der für Stuttgart zuständigen Landespolizeidirektion inne, war einer der Verantwortlichen für den ordnungsgemäßen Verlauf der Demonstration.
    »Und? Wie viele Teilnehmer sind heute dabei?«, hatte er ihn gefragt.
    Hauck hatte die Listen, die von seinen Beamten zusammengetragen worden waren, überflogen, dann mit einer Gegenfrage geantwortet. »Offiziell oder real?« Er hatte ein gequältes Lächeln gezeigt.
    »Beides«, hatte er erklärt.
    »Also offiziell sind es 50.000.«
    »Und real? Wie viele habt ihr in Wirklichkeit gezählt?«
    »Ehrlich?«
    »Ehrlich, ja.«
    »Zwischen 105.000 und 108.000. Genauer können wir es nicht definieren.«
    »Mindestens 105.000 Demonstranten also.«
    »Mindestens, ja.«
    »Und?«, hatte Braig gefragt. »Macht dir der Job noch Spaß?«
    Haucks Grinsen war binnen Sekunden aus seiner Miene verschwunden. »Wir kennen uns gut genug, oder?«
    Braig hatte an die Jahre zurückgedacht, die sie gemeinsam an der Polizeihochschule, später dann auch im Dienst verbracht hatten. »Ich hoffe doch, ja.«
    »Dann kennst du die Antwort. Ich habe es satt, ständig den Kopf für die«, er hatte in die Höhe gedeutet, »hinzuhalten. Wir alle haben doch inzwischen begriffen, dass es bei ›Stuttgart 21‹ um ein Immobilienprojekt geht, bei dem viele ein Riesengeschäft machen wollen. Zentrumsnahe Flächen werden benötigt, deshalb muss der Bahnhof unter die Erde, gleichgültig welche Folgen das hat und was das an öffentlichen Geldern kostet. Die da oben bedienen hemmungslos die Interessen ihrer Klientel, die kümmern sich überhaupt nicht mehr um die Sorgen der kleinen Leute. Und wenn die dann aufstehen und sich wehren, sollen wir Polizisten unsere Köpfe hinhalten und die Scheiße ausbaden. Lange mache ich das nicht mehr mit. Am besten, wir melden uns alle krank. Nur deswegen, weil ich Uniform trage, heißt das nicht, dass ich keinen Verstand habe. Ich stehe mit beiden Beinen fest auf der Erde. Wie die meisten Kollegen hier. Ganz im Gegensatz zu denen da oben, die jede Bodenhaftung verloren haben.«
    Unwillkürlich war Braig Klemens Stollner eingefallen. Ein nach außen hin freundlicher, sozial eingestellter, um seine Gemeinde bemühter Mann. Klemens, aus dem Lateinischen übersetzt, der Milde.
    »Ein Paradeexemplar unserer wirtschaftlichen und politischen Führungsschicht«, hatte Neundorf überlegt. »Die Parallelen sind nicht zu übersehen. Anfangs vielleicht tatsächlich bemüht um das Wohlergehen der ihm anvertrauten Menschen. Aber dann, im Verlauf der Jahre, korrumpiert von der Gier nach immer mehr. Warum sich mit dem Kleinkram in der Provinz zufriedengeben? Weshalb sich mit der Vergabe von Kleinkrediten an Häuslebauer bescheiden? Warum nur so ein winziges Fabrikle betreuen? Wieso in der Bedeutungslosigkeit versauern? Es gibt doch Anleihen, Derivate, Chancen auf riesige Gewinne, auf Macht, auf die Chance, seinen Namen in den Annalen verewigt zu sehen. International agierende Konzerne statt kleiner Familienklitschen. Große, bombastische Konzepte. Megamäßige, weltweit Aufsehen erregende Pläne. Die Kosten? Die Folgen? Was kümmert es uns! Wir leben nur ein Mal. Nach uns die Sintflut! Der Fisch stinkt vom Kopf her. Das ist unser Problem.«
    Es war dunkel geworden, die Dämmerung der Nacht gewichen. Zigtausende von Windlichtern, Laternen und Lampions verwandelten den Schlossgarten in ein gewaltiges Lichtermeer. Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung waren gemeinsam unterwegs. Wie es kam, konnte später niemand erklären. Mit einem Mal reichten sie sich die Hände, stimmten gemeinsam das Lied an, dessen Melodie ihnen von irgendwoher zugeflogen war. »We shall overcome …«
    Braig schaute sich um, sog die Atmosphäre der jungen Nacht in sich auf. Er spürte Stolz. Stolz auf die Menschen dieser Stadt und in diesem Land.
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