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Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall

Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall

Titel: Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
Autoren: Stefan Haenni
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setzt sich an den Flügel und beginnt zu spielen. »Was sagt Ihnen das?«
    Jetzt wird der Tee kalt, befürchte ich. Nach ein paar Takten hält der Pianist aber inne und wendet sich zu mir um. Peinlicherweise genau in dem Augenblick, in dem ich unmissverständlich die Petits Fours mit den Augen verschlinge.
    »Und?«
    »Na ja, im Anschluss an Ihre telefonische Erkundigung nach meiner Brahmsliebe nehme ich an, dass Sie mir soeben etwas Entsprechendes intoniert haben«, mutmaße ich.
    »Stimmt. Aber nicht irgend etwas. So klingen die ersten Takte der Sonate Nummer zwei für Klavier und Violine«, verkündet Auf der Maur. Erwartungsvoll mustert er mich.
    Vermutlich werde ich seiner Erwartung wieder nicht gerecht. Was will er andeuten? Was soll ich verstehen? Worauf soll ich selbst kommen? Wie habe ich als Schüler solche Ratespiele gehasst!
    »Opus 100, Herr Feller, die Thuner-Sonate!«
    Davon habe ich tatsächlich schon gehört. Bloß ist mir die Komposition bisher nicht oft genug erklungen, um sie spontan zu erkennen.
    »Jä so. Jetzt wo Sie’s sagen«, brummle ich.
    »Johannes Brahms wurde dazu durch die deutsche Altistin Hermine Spies inspiriert«, erklärt Auf der Maur weiter. »Sie hielt sich zu der Zeit am Thunersee auf. Ich glaube, in Interlaken. Europaweit galt sie als hervorragende Interpretin seiner Lieder. Ob er allerdings mehr in sie oder in ihren Gesang vernarrt war, lässt sich nachträglich nicht entscheiden.«
    Noch bevor mir ein passender Kommentar einfällt, winkt mich der Brahmspräsi zu sich. »Schauen Sie sich die Partitur an, Herr Feller. Sie können doch Noten lesen?«
    »Ich habe zehn Jahre Klavierunterricht genossen. ›Für Elise‹, den › fröhlichen Landmann‹ und die ›Czerny-Etüden‹ hat es gereicht.«
    Auf der Maur lacht.
    Ich weiß seine Heiterkeit nicht recht zu interpretieren. Ist mein Repertoire nach seiner Auffassung zu banal oder zu basal?
    Mit leichter Wehmut erinnere ich mich an meine österreichische Klavierlehrerin. Sie eröffnete mir als Zehnjähriger Einsichten und Einblicke, die mich die Vorzüge einer echten Weanerin haben kennen und schätzen lernen. Zum Beispiel die tiefen Einblicke in das Dekolleté ihres rosafarbenen Dirndls.
    Als schmaler Jüngling saß ich auf einem hochgeschraubten Klavierstuhl. Blind haute ich in die Tasten, bis die unvergessliche Gerdl Krautsch um ihr Musikgehör fürchtete. Sie sprang auf und stellte sich direkt hinter mich. Liebevoll umfasste sie mich mit zwei kräftigen Armen, die aus gebauschten Puffärmeln ragten. Nachfolgend spielte sie mir vor, wie’s klingen sollte. Selten habe ich mich auf ihr fehlerfreies Spiel konzentrieren können, denn im Pianissimo lastete ihr praller Busen wie ein barocker Balkon auf meinem unschuldigen Haupt. Im Forte fortissimo hingegen haute mir Gerdl ihre drallen Möpse hemmungslos um die Ohren. Oh, du liebe Krautsch! Haben deine Mozartkugeln etwa einen großen Pianisten verhindert?

     
    *
    Ich stehe neben dem Gastgeber am Flügel.
    Mit leicht zittriger Hand wendet er ein erstes Notenblatt. Dabei segelt dieses unverhofft auf die Klaviatur. Auf der Maur erschrickt. Vergeblich versucht er zu verhindern, dass auch die restlichen Seiten nacheinander auf die Tasten flattern. Eigenartigerweise besteht das ganze Bündel aus losen Einzelblättern. Was noch mehr überrascht: die Noten sind allesamt von Hand geschrieben.
    Bevor ich den Mund aufkriege, verkündet der Brahmspräsi mit bebender Stimme: »Lieber Herr Feller. Was Sie hier sehen, ist nichts Geringeres als Johannes Brahms’ Originalpartitur!«
    Ich reagiere mit einem subalternen »Wow!«
    Auf der Maur guckt irritiert.
    Darum dopple ich mit den Worten »potztausend« nach.
    Jetzt strahlt er über alle vier Backen.
    Ich erkundige mich: »Wie sind Sie an das Autograf rangekommen?«
    »Gute Frage, Herr Feller. Die Umstände sind in der Tat etwas obskur. Das ist der eine Grund, warum ich Sie engagieren möchte«, erklärt er, ohne mir damit zu antworten. »Der andere basiert auf meiner Unsicherheit bezüglich der Echtheit der Handschriften.«
    Ich nicke verständnisvoll: »Obskur? Was sind das für Umstände?«
    Auf der Maur zögert. Er ordnet mit spitzen Fingern vorsichtig die Notenblätter. Nach einem Räuspern sagt er: »Zwei Dinge muss man vorausschicken. Erstens haben wir es hier nicht mit der vollständigen Sonate zu tun, sondern lediglich mit dem zweiten und dritten Satz.«
    »Wo bleibt der erste?«, frage ich.
    »In einer polnischen Bibliothek. Der
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