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Bote ins Jenseits

Bote ins Jenseits

Titel: Bote ins Jenseits
Autoren: Hauke Lindemann
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fest, kniff die Augen wieder zusammen und bleckte die Zähne. Er war eigentlich nie unachtsam, wenn es um seine Krankheit ging, und so einen gewaltigen Zuckerschock hatte er ebenfalls noch nie gehabt. Er brauchte Insulin… JETZT! Unter größter Anstrengung versuchte er, sich nur auf die Spritze zu konzentrieren, und erhob sich wankend aus seinem Stuhl.
    Kamp torkelte und schwankte bedenklich. Die Tatsache, dass sein Rucksack ständig die Position zu verändern schien, war ihm nicht gerade eine große Hilfe. Er griff danach und bekam eben noch rechtzeitig eine Hand an die Wand, um einen Sturz zu verhindern. Er schleuderte herum, taxierte die ungefähre Richtung des Schreibtisches, schloss die Augen und stolperte los, bis er, »Gottseidank!« ausstoßend, gegen den Schreibtisch prallte.
    Sein Monitor fing den überschüssigen Schwung des mit zu viel unkoordinierter Kraft hochgewuchteten Rucksacks ab, und ein besorgniserregendes Geräusch erklang. Hoffentlich waren das nicht die Spritzen! Er brauchte vier Versuche, bis er den Reißverschluss zu fassen bekam, öffnete hektisch den Rucksack und holte, sich nur auf seinen Tastsinn verlassend, mit geschlossenen Augen sein Spritzbesteck heraus.
    Er hätte jetzt gern eine gewisse Erleichterung verspürt und hielt das eigentlich auch für angebracht. Stattdessen erfasste ihn eine neue Panikattacke. Er war eindeutig nicht mehr in der Lage, eine korrekte Dosis zu berechnen. Er war sich nicht mal sicher, ob seine motorischen Fähigkeiten noch ausreichten, um eine Spritze aufzuziehen, und ob er überhaupt noch so viel Zeit haben würde. Es half aber nichts, er musste es versuchen, bevor er das Bewusstsein verlor. Er konnte unmöglich noch so lange warten, bis Tibbe ins Büro kommen würde.
    Vielleicht sollte er einfach um Hilfe rufen, möglicherweise war ja doch schon jemand im Gebäude.
    »Häoouuuumm!«
    Nicht mal mehr das konnte er! Er schloss die Augen, atmete tief durch und ging es an.
    Das Offnen des kleinen Lederetuis funktionierte erfreulich problemlos. Er nahm eine Durchstechflasche in die linke Hand und eine saubere Insulinspritze in die rechte. Beim ersten Versuch stach er sich mit der Nadel in den linken Daumen und fluchte leise.
    »Schaahse.«
    Der zweite Versuch traf sein Ziel, und er schob die Nadel, so vorsichtig er konnte, durch die dünne Kunststoffmembran in das Insulin. Jetzt nur nicht die Nadel abbrechen.
    Am Rande des Bewusstseins bemerkte er, die Spritze bis zum Anschlag aufgezogen zu haben, so als würde jemand, den er noch nie ernst genommen hatte, neben ihm stehen und besserwisserisch darauf hinweisen. Für Klugscheißereien hatte er jetzt aber keinen Kopf!
    Mit einem Ruck zog er die Spritze aus der Flasche und versuchte mit einem zugekniffenen Auge zu erkennen, ob noch alles an ihr dran war. Das schien der Fall zu sein. Die Luftblase schoss er, zusammen mit ein wenig Insulin – welches anschließend zielsicher in den Lüftungsschlitzen seines Flatscreens landete – in die Luft.
    Wie ein Tango-Tänzer seine Rose, nahm er die fertig aufgezogene und entlüftete Spritze vorsichtig zwischen die Zähne und zog sich schwankend den rechten Ärmel seines Pullovers hoch.
    Insulin gehörte eigentlich subkutan injiziert. Nur in Notfällen durfte man es direkt in die Vene spritzen, und auch dann nur unter Beteiligung von medizinischem Fachpersonal. So hatten es ihm all die Ärzte, mit denen er es im Laufe seines Lebens zu tun bekommen hatte, immer wieder eingebläut.
    Dies war eindeutig ein Notfall, aber wo er auf die Schnelle einen Arzt oder zumindest einen Rettungssanitäter auftreiben sollte, war ihm schleierhaft. Wenn er jetzt nicht selbst handelte, würde er vielleicht nur noch einen Pathologen brauchen.
    Wie eine geladene und entsicherte Waffe vor dem Warnschuss hielt er die Spritze in seiner rechten Hand, starrte seinen Arm an, an dessen Ende sich die Hand scheinbar wie von selbst öffnete und schloss, um die Blutbahn zum Herz aufzupumpen – und rammte sich die Spritze in die auf brauchbare Größe angeschwollene Vene.
    Mit dem dankbaren Gefühl, es gerade noch geschafft zu haben, zog er die Nadel wieder raus und warf die Spritze achtlos beiseite.
    Für einen endlos erscheinenden Moment stand er schwankend auf der Stelle und starrte aus dem Fenster. Schließlich ging er ruckartig zwei Schritte zurück, verdrehte die Augen und fiel zu Boden.

Aufwaerts
     

     
     
     
    Kamp öffnete die Augen und sah die Decke seines Büros. Erleichterung durchströmte
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