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Bordeuax

Bordeuax

Titel: Bordeuax
Autoren: Paul Torday
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Meter weiter auf einem Liegestuhl bequem gemacht und liest
Zeitung. Die anderen sind noch im Haus, wachen allmählich aus ihrem
Nachmittagsschlaf auf und überlegen wahrscheinlich, ob sie sich schon für das
Abendessen umziehen sollen. Ich trage geliehene Kleidung, die mir nicht gut
passt. Heinrich ist in eine viel zu große, ausgebeulte Hausjacke aus grünem
Samt gehüllt, eine Hose mit einem undefinierbaren Schottenmuster, an den Füßen
Samtpantoffeln mit aufgestickten goldenen Hirschköpfen. Wir haben uns
zugenickt, als ich auf die Terrasse trat, aber er ist in seine Zeitung vertieft,
und ich blicke auf die fremde Landschaft vor mir.
    Die Talsohle weiter unten liegt
verschleiert im Schatten eines dunklen Tannenwaldes, über dem Wald kleine
Flecken grüner Weiden, durch Steinmäuerchen markiert. Schafe, von zwei Hunden
zusammengetrieben, gefolgt von einem Farmer auf einem Quad, strömen den
Berghang hinunter auf eins dieser Felder zu, auf dem ein runder Pferch steht.
Ich kann die klagenden Rufe der Schafe hören, während sie zusammengepfercht
werden. Oberhalb der Weide ist die Heide, hier fängt das Moor an, wo ich den
Tag verbracht habe. Vor einem Jahr, vor einem Monat noch wäre es undenkbar
gewesen, dass ich mich je an so einem Ort aufgehalten hätte, so einen Tag
erlebt hätte.
    Die düsteren Wolken, die tagsüber
den Himmel verdeckt hatten, sind verschwunden. Rote und gelbe Streifen
durchziehen den Himmel. Die Luft ist warm, erfüllt von dem süßlichen Duft, den
ich von meinem ersten Besuch in Caerlyon her kannte. Mein Leben hat sich in den
vergangenen vier Monaten verändert. Jetzt, mit einsetzender Dämmerung, ergießt
sich ein großes goldenes Licht über die Berggipfel und Kammlinien, suggerieren
unendliche Fernen und unentdeckte Länder und grenzenlose Möglichkeiten. Am
Horizont reihen sich Wolken auf, in ihren Kuppeln und Säulen fängt sich die
Abendsonne, sie sehen aus wie eine ferne Bergkette im Himalaja. Ich drehe mich
um und sehe Catherine aus dem Haus kommen, die mit zwei beschlagenen Gläsern
Weißwein in der Hand über die Terrasse auf uns zugeht. Sie trägt ein dunkelrosa
Abendkleid, das ihr perfekt steht, und wieder, wie schon beim ersten Mal, als
ich sie sah, bin ich von ihrer Schönheit überwältigt.
    Sie geht zuerst zu Heinrich
Carinthia in seinem Liegestuhl und fragt ihn: »Ein Glas Wein, Heini?«
    »Was? Wie bitte? Ach, du bist es,
Catherine. Ich war gerade völlig woanders, beim Anblick dieses herrlichen
Sonnenuntergangs. Ja, danke. Ein Glas Wein tut jetzt gut.«
    Catherine reicht ihm das Glas, kommt
dann zu mir und gibt mir das andere Glas.
    »Und Sie, Wilberforce?«
    Und ich?
    Vieles schwingt in dieser Frage mit.
Ich nehme ihr den Wein ab, den sie mir reicht, und ihre Hand, kühl vom Glas,
berührt dabei kurz meine Finger. Sie zieht ihre Hand nicht sofort zurück,
sondern sieht mich an, und für einen Moment treffen sich unsere Blicke. Ich
entdecke Neugier darin, und Verwirrung. Dann überlässt sie mir das Glas. Ich
sage nichts, bedanke mich nicht einmal. Ich kann nicht sprechen. Sie lächelt
nicht, sagt ebenfalls nichts, aber nach einer Weile dreht sie sich um und kehrt
langsamen Schrittes ins Haus zurück.
    Wer bist du, fragt ihr Blick. Was
bist du?
    Ich kenne die Antwort darauf. Ich
bin Nobody. Ich bin Niemand. Ich bin alles Mögliche. Ich kann mir aussuchen,
wer ich sein will. Ich drehe mich um, das Glas in der Hand, und betrachte wieder
den goldenen Abendhimmel.
    »Was für ein himmlischer Abend«,
sagt Heinrich Carinthia.
    Ich nicke freundlich dazu, sage aber
nichts. Ich bin immer noch sprachlos. Heinrich versteht, was ich empfinde.
Keiner hat das Bedürfnis, noch etwas zu sagen. Die Schafe weiden ruhig. In die
Täler ist wieder diese Stille eingekehrt, ein Frieden, der mit nichts zu vergleichen
ist. In schweigsamer Gesellschaft schauen wir beide zu, wie die Sonne am Himmel
tiefer und tiefer sinkt. Ein einzelner heller Stern leuchtet auf, dann
erscheint noch einer und noch einer, und die Sonne taucht hinterm Horizont
unter. Mein Herz ist wie beklommen durch meine große Entdeckung, durch die
Wahrheit, die ich soeben in diesem herrlichen Sonnenuntergang gesehen habe, die
Wahrheit, die ich eben bei der Berührung von Catherines Hand gespürt habe.
    Weil ich Niemand bin, kann ich mir
aussuchen, wer ich sein will. Ich kann mir mein Leben so einrichten, wie ich
will. Ich kann alles Mögliche werden, ich kann alles Mögliche tun.
    Zum ersten Mal in meinem Leben habe
ich das
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