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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht
Autoren: Sylvie Schenk
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er schweigt, warum er sich eine tote Ehefrau erfunden, seinen echten Beruf verschwiegen hat, warum man in seinem Computer einen Text über ein totes Mädchen gefunden hat? Ein Mythomane, ein Kinderschänder ist er, ein Verbrecher, vielleicht ist er auch verrückt und gemeingefährlich. Vielleicht haben wir Glück gehabt, dass wir rechtzeitig nach Hause gekommen sind. Christine Suters Stimme wurde immer lauter, das Schaukeln des Babys heftiger, das wieder zu weinen begonnen hatte. Ein totes Mädchen, wiederholte Liliane, er hat über ein totes Mädchen geschrieben?

FELD 60: DIE ZELLE
    Glück ist nie genau das, was man sich darunter vorgestellt hat.
    W ILLIAM S OMERSET M AUGHAM
    Wenn klinisch Tote wieder zum Leben erweckt werden, erzählen sie manchmal, dass sie durch einen Tunnel gelaufen sind und dass ihr gesamtes Leben sich vor ihren Augen abgerollt habe. Eine Gefängniszelle eignet sich ebenfalls zur Rückschau auf die Vergangenheit, nur dass Bodins Leben wie durch einen Fleischwolf gedreht matschig zu seinen Füßen lag, dass alle Momente und Personen seiner Biografie auf ihn prasselten und ihn zu erschlagen drohten. Er hob die Füße und krümmte sich auf der Pritsche, gab sich jedoch weiter Mühe, einige Zeichen aus seiner Lebensbrühe herauszufischen, Silben aus toten Mündern herauszuhören, Dinge zu erkennen, zum Beispiel die sturen Blicke auf seine weiße Frotteestrampelhose und sein kahles Köpfchen, auf das der Priester das Heilige Wasser der Taufe tröpfeln ließ. Der Vater ist nicht anwesend, Frau Bodin? Der Vater hat sich verflüchtigt, Pater. »Dir heit Glück«, hatte der Wächter gesagt, »die graue Wänd vo dere Zälle si früsch renoviert worde, i däm Trakt isch alles neu, dir heit ou Glück, dass dir d’Zälle nit miteme andere müesset teile. Das isch besser für euch, das chöit dir mir gloube, Bodin. Und jo, du hesch Glück, du Souhund, du Verbrächer, du Monschter, du Chindlifigger, dass di d’Lüt vom Dorf nit grad ufghänkt hei.«
    Der Gefangene wiederholte für sich dieses ganz eigenartige Wort, das glockenhaft klang, Glück, Glück, Glück, und sehnte sich nach einem kalten Bier, Gluck-Gluck-Gluck, und dachte, meine Mutter, die einen Doktor-Sohn hatte, pries auch ihr Glück, Glück gehabt, sagte sie auch zu ihm: Mein Glück bist du, mein großer Sohn, mein genialer Sohn, der Stolz meines Alters. Die Taufe, die Kommunion, die Abiturfeier, sie regneten in seine grauen Zellen, die Erinnerungen, ein Stichwort gab das nächste, aus »Glück« wird »klug«, so klug ist Ihr Sohn, sagten die Lehrer zu der Mutter, der Junge wird schon einiges im Leben bewerkstelligen, mein Sohn, sagte die Mutter zu Clothildes Mutter, und hätte besser die Klappe gehalten, mein Sohn schreibt lauter Einser, und dies vor der Mutter eines so dummen Kindes wie Clothilde, ach, Clothilde, die Waffeln, das Schwimmbecken, diese graue, dachfreie Zelle eines Schwimmbeckens klaffte wieder in seinem Kopf, eher blau eigentlich, höchstens fahl und dämmerungsgrau, ein Schwimmbecken als tote Kammer. Und, es war nicht zu vermeiden, der Körper der ertrunkenen Clothilde schwamm darin, und er, der zu spät springende Retter, der falsche Retter, der genau wusste, in seinem damals noch klaren Kopf, dass er zu lange gewartet hatte (und warum bitte sehr?), viel zu spät sprang, der ohnmächtige Selbstlügner, der Mörder eines kleinen Mädchens. Wenn Jürgen über seinen Vater etwas hören wollte, erzählte die Mutter immer, er hieß Anton, habe eine Ente gehabt und sie seien damit oft gefahren, in den Wald und so. Und in der letzten Nacht, als sie schwanger war, saß sie mit Anton auch in diesem Wagen und er habe ihr gesagt, er wolle sie nicht heiraten, er habe eine vornehmere Frau verdient, eine Studierte wie er. Die Intelligenz hast du von ihm, sagte sie. Er stellte sie sich vor, den Enten-Anton und die Mutter, so jung und dünn wie Clothilde war sie, wie sie eine Nacht lang diskutieren, nein, sie diskutiert nicht, sie fleht ihn an, sie nicht mit einem Kind alleinzulassen, sie verspricht ihm das Blaue vom Himmel, sie küsst ihn und sagt, sie liebt ihn und vielleicht schläft sie noch mit ihm, mehr kann sie nicht argumentieren, die Mutter. Aber irgendwann muss sie in die Dämmerung aussteigen und zusehen, wie er in seiner Ente flieht.
    Er kann sich nicht mehr an die
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