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Blutschuld

Blutschuld

Titel: Blutschuld
Autoren: Karina Cooper
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auseinanderlagen.
    Jessie gab sich unglaublich viel mehr Mühe dabei.
    Das Gras unter Naomis Stiefeln war mit Raureif überzogen. Es knirschte, wenn man darauf trat. Aber es war nicht weiß, sondern bräunlich gefroren. Naomi hinterließ Fußspuren darauf. Aber genau deshalb hatte sie sich dem verabredeten Treffpunkt von dieser Seite her genähert.
    Ihr Auftrag war eigentlich einfach. Sie glitt die Stufen des Treppenabsatzes vor dem Eingang hinauf, reckte sich und drehte der trüben Funzel, die seitlich angebracht den Eingangsbereich beleuchtete, die Glühbirne heraus. Es genügte eine rasche Drehung mit der behandschuhten Hand, und das Licht erlosch.
    Kaum war Naomi an der Tür, hatte sie auch schon die Appartementnummer erspäht, in dem ihre Kontaktperson auf sie warten sollte. Sie müsste nicht mehr tun als sicherstellen, dass Haus und Wohnung risikolos zu betreten wären, und der Kontaktperson das kleine Päckchen übergeben, das Jessie ihr in den unauffälligen Rucksack gesteckt hatte.
    Ganz einfach.
    Naomi fühlte sich wie ein Hund, dem man zur Belohnung den Kopf tätschelte, weil er etwas gut gemacht hatte. Aber Naomi würde auch das ertragen. Sie war es verflucht leid, in dem kleinen grünen Haus in der kleinen grünen Bucht mit drei anderen eingesperrt zu sein und auf irgendein Signal zu warten, das irgendwann von irgendwem gegeben würde.
    Sie war die Mondsichelbucht unglaublich leid. Gut, Matildas heiße Quellen waren das Paradies auf Erden und wirkten bei Naomis Verletzungen Wunder. Aber trotzdem.
    Die Augen wachsam auf der Straße, probierte Naomi hinter ihrem Rücken den Türknauf aus. Er quietschte, ließ sich aber problemlos drehen, und die Tür sprang auf.
    Glaubte in dieser Gegend niemand an verschlossene Türen?
    Wieder flackerte die Straßenbeleuchtung. Die Laternen gingen aus, gingen wieder an, während die Stadt darum kämpfte, auch die Ebenen der ärmeren Bevölkerungsschichten mit Energie zu versorgen. Beim nächsten Donnerschlag, laut genug, um die Wände aus Holzlatten erbeben zu lassen, schlüpfte Naomi ins Haus und schloss leise die Tür hinter sich.
    Der Eingangsbereich glich jedem anderen in der Unterstadt. Schmuddelig, trist. Leben und Alter hatten ihre Spuren hinterlassen.
    Naomi schnitt eine Grimasse und fuhr sich mit der Zunge einmal über den Silberring in der Unterlippe. Im Vorbeigehen warf sie jeweils einen Blick auf die entsprechende Nummer an den Wohnungstüren. Naomi bewegte sich flink, geschmeidig, lautlos.
    Das Appartement, das als Treffpunkt fungierte, lag am Ende eines kleinen Flurs. Die Farbe, mit der die Nummern auf die Wohnungstüren gemalt waren, blätterte altersgrau davon ab. Das Fenster nach draußen war schon vor so langer Zeit zugenagelt worden, dass der Rost der Nägel den Putz um sie herum verfärbt hatte. Falls Naomi im Notfall durch das Fenster flüchten wollte, würden die Bretter sicher nachgeben, bevor Naomi es täte.
    »Ist der Typ vertrauenswürdig?«, hatte sie Silas gefragt. Matilda und Jessie waren gerade dabei gewesen, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, damit Naomi aufbrechen konnte.
    Den Blick, den er ihr zuwarf, hatte Naomi nicht zu deuten verstanden. Scheißunergründlich. »Wahrscheinlich.«
    Naomi ging auf, dass sie das so hingenommen hatte. Das sagte viel über die Rolle aus, die sie in ihrem neuen Leben spielte. Als Missionarin hatte sie immer auf die Verlässlichkeit von Informanten, Kontaktleuten und Mitstreitern vertrauen können. Jeder hatte sich stets zweimal überlegt, sie aufs Kreuz zu legen. Schließlich waren genügend Gerüchte im Umlauf, was die Kirchenjustiz bei Vertrauensbruch verhängte.
    Eine Hexe dagegen hatte, was Verlässlichkeit anderer anging, jede Menge zu bedenken. Wahrscheinlich war da nur ein anderes Wort für alternativlos .
    Naomi hielt die Luft an, drückte das Ohr gegen das Türblatt und lauschte angestrengt, während ihre Finger sich am Türrahmen festkrallten. Nichts war zu hören. Nicht einmal Schritte. Volle fünf Minuten blieb Naomi reglos stehen, das Ohr an der Tür, und lauschte.
    Alles, was sie hörte, war Donner. Es donnerte immer wieder, eine endlose Kette wilder Donnerschläge. Naomi konnte den Donner bis in ihre Knochen spüren, während über der Stadt das Unwetter wütete.
    Falls sich Naomis Kontaktmann bereits in der konspirativen Wohnung befand, war er entweder eingeschlafen oder hatte die Geduld eines Heiligen.
    Beim nächsten Donnerschlag, der die Wände zittern ließ, packte Naomi den Türknauf.
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