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Blutlust

Blutlust

Titel: Blutlust
Autoren: Riccarda Blake
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bekam eine Ahnung davon, wie das gemeint war.
    Die Dusche bestand aus einer Ecke, die durch einen Plastikvorhang vom Rest des etwa zwei Quadratmeter großen Raumes abgetrennt war. Den alten Vorhang hatte ich natürlich gleich entsorgt. Ich würde heute einen neuen kaufen; aber für den Moment musste es so gehen.
    Das Wasser floss dünn und kalt aus der verkalkten Brause. Zumindest war es nicht rostig. Ich versuchte, es sportlich zu nehmen und es als Abhärtung und Wellness-Programm zur Straffhaltung meiner Haut zu betrachten. Aber meine Nippel wurden klein und hart, und ich hatte Gänsehaut am ganzen Körper. Dafür wollte sich die Seife nicht richtig auflösen, das Haarewaschen wurde zur Tortur und das Zähneputzen zu einer im wahrsten Sinne des Wortes nervenaufreibenden Herausforderung. Vielleicht sollte ich mir doch statt eines neuen Duschvorhangs ein anderes Apartment suchen.
    Im Geiste setzte ich Wohnungssuche an die Spitze meiner Prioritätenliste, gleich unter all das, was für die Uni noch zu erledigen war, und brühte mir mit dem ebenfalls mitgebrachten Wasserkocher einen Instantkaffee auf. Dazu aß ich, während ich mich abtrocknete, anzog und schminkte, einen Schokoriegel und einen Becher Joghurt.
    Mentale Notiz Nummer zwei: Auf dem Rückweg von der Uni einkaufen gehen!
    Dann packte ich den Campusplan in die Tasche und machte mich auf den Weg.
    Mein erster Tag an der Uni. Ich war nervöser als bei meiner Einschulung.
    Gefühlte zwei Stunden und siebenundzwanzig U-Bahn-Stationen später stand ich vor dem berühmten Triumphbogen am Washington Square Park – dem Eingang zur New York University. Dem Tempel der Wissenschaft. Hinter mir der dichte Verkehr der Fifth Avenue, vor mir das bunte Treiben hunderter ankommender Studenten aus aller Herren Länder.
    Der Platz flößte mir Ehrfurcht ein. Ich stellte mich ganz ruhig hin und atmete lange aus, bevor ich tief Luft holte. Das war ein Moment, den ich einfangen wollte. Ich, allein inmitten dieser gewaltigen Maschinerie. Hier würde ich Medizin studieren. Hier würde ich lernen, Krankheiten zu heilen und Menschen zu helfen.
    Plötzlich zuckte ich zusammen. Wie auch alle Studenten und Studentinnen um mich herum.
    Jemand schrie.
    Entsetzlich laut und lang anhaltend. Voller hysterischer Wut.
    Wir alle drehten uns um, wir wollten sehen, woher der Schrei kam. Manche aus Schaulust, aber die meisten mit der Entschlossenheit zu helfen, falls Hilfe notwendig war.
    Dann sah ich sie – die Person, die den Schrei ausstieß. Es war eine Frau. Eine junge Frau; drei, vielleicht vier Jahre älter als ich. Sie schien einem viktorianischen Schauerroman entsprungen zu sein. Sie trug ein weißes weites Spitzenkleid aus Dutzenden Lagen Taft und Tüll und eben Spitze, wobei ›weiß‹ sich hier ganz klar auf die Farbe bezieht, die das Kleid vor vielen, vielen Jahren einmal gehabt haben musste. Jahre, in denen es, so, wie es aussah, nicht ein einziges Mal gewaschen, aber bei jedwedem Wetter und Anlass getragen worden war. Es war schmutzig und zerschlissen, an manchen Stellen sogar löchrig. Ebenso schmutzig waren die schuh- und strumpflosen kleinen Füße der Frau, ihr püppchenhaftes Gesicht und die dichten blonden Locken, die links und rechts am Kopf mit zwei ehemals wohl blauen Seidenbändern zu dicken Zöpfen gebunden waren. Über der Schulter trug sie einen alten ausgefransten Leinenbeutel. Sie hatte den kleinen Mund weit aufgerissen, die Fäustchen geballt und schrie wie am Spieß.
    Einen Grund für ihr Schreien konnte ich jedoch nicht ausmachen. Soweit ich sehen konnte, griff niemand sie an. Als sie die ungeteilte Aufmerksamkeit der Umherstehenden hatte, riss sie beide Arme in die Höhe und kreischte wie eine Banshee: »Wehe, wehe, wehe! Oh, all ihr ahnungslosen Schafe! Wollt ihr wirklich zur Schlachtbank?«
    Eine irre Predigerin.
    Ich hatte gelesen, dass es in New York fast an jeder Straßenecke solche Menschen gab. Solche Weltuntergangspropheten.
    Ein erleichtertes Raunen ging durch die Menge, und ein Großteil der Leute nahm seinen Weg wieder auf. Ich aber blieb stehen. Als Neuankömmling in der Stadt wollte ich mir dieses Spektakel nicht entgehen lassen.
    » Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate! «, schrie sie voller Pathos und Inbrunst. »Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle eure Hoffnung fahren! So steht es laut Dante geschrieben über den Pforten zur Hölle. Und so müsste es auch über dieser Pforte geschrieben stehen!« Sie deutete auf den Triumphbogen.
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