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Blutlinien - Koeln Krimi

Blutlinien - Koeln Krimi

Titel: Blutlinien - Koeln Krimi
Autoren: Myriane Angelowski
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erkannte einen Affen, eine wirklich unglaublich gelungene riesenhafte Zeichnung.
    »Er hat an einer Hand fünf Finger und an der anderen vier«, erklärte meine Tante und schoss aufgeregt Fotos. »Das symbolisiert die neun Dürrejahre, unter denen die Nazca-Menschen einst litten.«
    Nach dem Affen erschien ein Hund. Ein Wal. Eine menschliche Gestalt. Ein Kolibri. Ich saß mit offenem Mund da und konnte mich nicht sattsehen. Es folgte Figur um Figur, Linie um Linie. Manche unterbrochen durch Wege und Straßen, aber die Abbildungen waren zu erkennen.
    Die Pilotin flog Schleifen.
    Meine Tante war völlig aus dem Häuschen, fotografierte und schrie mir Erklärungen ins Ohr. »Die Figuren werden Nazca-Linien genannt, es sind sogenannte Scharrbilder. Die Linien erstrecken sich über eine Gesamtfläche von fünfhundert Quadratkilometern. Sie sind um 800 vor Christi durch Menschenhand entstanden, indem die obere Gesteinsschicht, der rote Wüstenlack, in schmalen Bahnen abgetragen wurde. Jahrhundertelang lagen sie vor den Füßen der Zivilisation. Unbemerkt, weil niemand in der Lage war, das riesige Ganze zu erkennen. Wahnsinn, oder?«
    »Wer hat sie gemacht?«
    »Darüber forscht die Wissenschaft, aber es scheint klar, dass es sich bei den Bildern um Kultstätten handelt. Wahrscheinlich waren sie religiös-zeremonielle Pfade, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit beschritten wurden.«
    Ich saß ganz still. Tief beeindruckt von dem, was ich sah, erkannte ich, dass wir vor einigen Tagen am Boden über die Linien gegangen waren. Natürlich hatte ich die Furchen wahrgenommen, aber das Gesamtbild erschloss sich erst hier oben, in der Höhe.
    »Über sechshundert Darstellungen sind bis heute vermessen und katalogisiert. Diese Perfektion, diese Genauigkeit! Das ist doch einfach unglaublich!«
    Ich gab meiner Tante recht. Das war faszinierend. Jedoch störte mich ihr Gekreische nach einer Weile, und ich verlor das Interesse an ihren langatmigen Ausführungen.
    Dennoch bildeten die Nazca-Linien den Höhepunkt unserer Peru-Reise, und ich blieb meiner Tante dankbar dafür, dass sie mich mitgenommen hatte. Für mich stellten sich die Scharrbilder als Offenbarung, Fingerzeig, Wegweiser und Wendepunkt meines Lebens heraus. Und ich verstand die Botschaft, begann überall nach Geoglyphen zu suchen. Es gibt sie auch in unserer westlichen Welt, man muss nur Ausschau danach halten, Linien beachten und ihnen folgen.
    Ich kann sie jedenfalls sehen, habe seit damals diesen besonderen Blick und scanne meine Umgebung danach. Manchmal schwinge ich mich auf, kreise wie ein Adler über Städten, Dörfern und Waldgebieten. Der Anblick, der sich mir bietet, steht dem Erlebnis in Peru in nichts nach. Nur die Motive unterscheiden sich.
    Wenn ich den Linien hier folge, sie aufmerksam betrachte, bilden sie Symbole wie einen Dreizack, Runen und geheime Zeichen. Aber letztlich spielt das Motiv keine Rolle, es geht um die Personen, die auf den Linien gehen.
    Gewisse Menschen gehen auf bestimmten Pfaden. Möchte ich Müttern folgen, halte ich mich dort auf, wo ihre Linien verlaufen. Will ich Abtreibungsgegnern begegnen, postiere ich mich woanders. Es gibt Schnittmengen, Linien, die sich kreuzen, die verschiedene Personengruppen zusammenbringen, die nichts auf gemeinsamen Linien zu suchen haben.
    Mein Interesse richtet sich auf Individuen, die sich einnisten und kein Recht haben, da zu sein, wo sie sind. Sie interpretieren das Schweigen der Masse als Zustimmung und bilden sich ein dazuzugehören. Trampeln auf Pfaden, die nicht für sie angelegt wurden, und tun so, als wären sie dazu berechtigt. Ich mache ihnen einen Strich durch die Rechnung und stehe dabei nicht allein. Ich habe Verbündete, überall, in Europa, ja sogar in der ganzen Welt.
    Wir sind eine beachtliche Gruppe.
    Auch in Köln verlaufen Linien. Riesige Scharrbilder liegen wie ein Netz über der Stadt. Ich laufe sie regelmäßig ab, lege große Entfernungen zurück und bin, so oft es geht, unterwegs. Auf den Ringen, vor Bars sowie zweifelhaften Diskotheken, in verschiedenen Vierteln und den S-Bahn-Linien der Stadt.

Köln-Nippes, Neusser Straße
    Lou schaffte es am nächsten Morgen um sechs Uhr aus dem Bett, obwohl sich die Tatortaufnahme in die Länge gezogen hatte und die anschließende Besprechung bis in den späten Abend hinein gedauert hatte. Informationen mussten zusammengetragen werden, damit der MK -Leiter die Arbeitsaufträge für den kommenden Tag koordinieren konnte. Ben Stollberg
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